Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann
Rufe. Lydia steckte den Kopf durch die Tür.
»Ich habe es gerade gehört«, sagte sie. Sie blickte Kait mit dem traurigsten Hundeblick an, den sie je an ihr gesehen hatte. Dennoch schien eine bittere Befriedigung darüber durch, dass sie recht behalten hatte. »Ich habe dir doch gesagt, dass mein Vater gewinnen würde. Er gewinnt immer. Es war schlau von dir, die Seiten zu wechseln, Kait.«
»Leihst du mir eine Seidenstrumpfhose?«, fragte Kaitlyn.
Mr Zetes wartete schon im Wohnzimmer, als die Jugendlichen nach unten gingen. Kaitlyn vermutete, dass er mit im geheimen Zimmer im Keller gewesen war und sie bei der Arbeit angeleitet hatte. Er nickte Kaitlyn höflich
zu, als sie das Zimmer betrat, an den Füßen ein paar Schuhe, die Frost ihr geliehen hatte.
Er wirkte liebenswürdig, doch hinter der Fassade konnte Kaitlyn seine ungestüme Freude spüren. Er wusste, dass sie litt, und das freute ihn.
»Amüsier dich, Kaitlyn«, sagte er.
Kaitlyn reckte das Kinn in die Luft. Sie gönnte ihm den Triumph nicht.
Auch Gabriel war da. Er sah schick aus in seinen dunklen Kleidern. Kaitlyn sah ihn bewundernd an. LeShans Tod schien ihm nichts auszumachen, aber er hatte ja auch keinen Grund, die Gemeinschaft zu mögen. Ihrer Philosophie zufolge blieben ihre Türen jemandem, der einem Menschen das Leben genommen hatte, verschlossen, egal, unter welchen Umständen es geschehen war. Gabriel, der versehentlich und in Notwehr zwei Menschen getötet hatte, hatten sie den Einlass verweigert. Wohl deshalb war Gabriel von LeShans Tod nicht weiter erschüttert.
Alle anderen befanden sich in einem wahren Freudentaumel.
Mr Zetes verabschiedete sich von ihnen, und sie verteilten sich auf zwei Autos. Kait fuhr bei Lydia mit, gemeinsam mit Bri und Renny. Joyce nahm Gabriel, Frost und Schakal Mac mit. Kait dachte die gesamte Fahrt nur darüber nach, wie sie Rache für LeShan nehmen konnte – auch an Gabriel.
Die Disco hieß »Dark Carnival«. Ihr Anblick lenkte Kaitlyn von ihren düsteren Rachegedanken ab. So etwas hatte sie noch nie gesehen.
Vor der Tür hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet. Die Leute waren in merkwürdiger Aufmachung gekommen, trugen die seltsamsten Verkleidungen. Sie sahen geradezu grotesk aus, Angst einflößend.
Lydia musste wegen des Verkehrs eine Weile vor dem Discoeingang halten, und Kaitlyn konnte beobachten, was sich dort abspielte. Ein Türsteher mit Ring in der Lippe entschied, wer sofort hineindurfte, wer warten musste und wer nicht eingelassen wurde. Unter denen, die Einlass fanden, waren ein Typ mit lila Glitzerlippenstift und mit Alufolie umwickelten Locken, ein Mädchen in einem schwarzen Abendkleid mit Spinnennetzmuster, eine schicke junge Frau, die aussah wie eine Italienerin und einen knappen weißen Body zu einer ultrakurzen schwarzen Samt-Short trug.
»Leute, die nicht cool genug sind, kommen nicht rein«, erklärte Bri, die sich von hinten schwer über ihre Schulter lehnte. »Du musst entweder berühmt sein oder wunderschön oder …«
… oder angezogen wie eine Mischung aus Gruselkabinett und Science-Fiction-Film, dachte Kaitlyn.
»Wie kommen wir dann rein?«, fragte sie.
Sie beobachtete die Abgewiesenen, die offenbar nicht aufregend oder abgedreht genug aussahen und draußen
hinter der Absperrung warteten. Einige von ihnen weinten.
»Wir haben eine Einladung«, sagte Lydia tonlos. »Mein Vater hat Beziehungen.«
Sie hatte recht. Der Türsteher ließ sie sofort ein.
In der Disco blitzten Stroboskop-Lichter und bunte Lichteffekte, ein anderer Teil des Raums war in geisterhaftes Schwarzlicht gehüllt. Die Luft stand vor Rauch, sodass Kaitlyn nur noch eine Art dunstigen Regenbogen sah.
Die Musik war ein lautes Wummern, sodass die Leute brüllen mussten, wenn sie sich unterhalten wollten. Auf der Tanzfläche hüpfte ein Mädchen mit langem blondem Haar auf und ab und stieß die Arme in die Luft.
»Ist das nicht super?«, brüllte Bri.
Kaitlyn wusste nicht recht, was das war. Laut. Abgefahren. Aufregend, wenn man in Feierlaune war, andernfalls aber unheimlich und unwirklich.
Ich werde dich rächen, LeShan. Das verspreche ich.
Sie sah, dass Joyce auf die Tanzfläche ging. Schakal Mac gab bei einer spärlich bekleideten Bedienung eine Bestellung auf.
Wo war Gabriel?
Bri war verschwunden. Kait fand sich inmitten von Leuten wieder, die Flügel trugen, in Zellophanfolie eingewickelt waren oder Stacheln an den Fingernägeln hatten. Wo sie hinsah, schrill gefärbte wilde Mähnen,
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