Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
riss die Tür auf.
Marisol kniete vor ihr auf dem Boden.
Die Studentin hob den Kopf, und einen Moment lang begegneten sich ihre Blicke. Marisol sah sie entsetzt an. Dann war sie schon auf den Füßen.
»Oh nein, du haust nicht ab!« Angespornt von den Gefühlen, die sie am Nachmittag erlebt hatte, Enttäuschung, Aufregung und Wut, packte Kait beherzt zu. Sie erwischte Marisol an der Schulter und zog sie herum.
»Was hast du an meiner Tür zu suchen? Was ist das?«, wollte Kaitlyn wissen und deutete auf den gefalteten Zettel, der auf ihrer Türschwelle lag. Marisol hatte sich das dichte Haar aus den Augen gestrichen und sah sie trotzig an.
Kaitlyn ließ kurz los, um das Papier aufzuheben, hatte Marisol aber sofort wieder gepackt, als sie zu fliehen versuchte.
»Das ist mein Bild!« Es war die Zeichnung, die Kait am Vortag gemacht hatte, die mit dem dritten Auge auf der Stirn, die sie auf dem Boden des Labors hatte liegen lassen.
Allerdings war jetzt etwas darauf geschrieben.
Mit dickem schwarzem Filzstift stand unter der Zeichnung: PASS AUF. DAS KÖNNTE DIR PASSIEREN.
Kaitlyn richtete sich zu voller Größe auf. »Schon wieder ein Spaß?«, fragte sie grimmig.
Marisol, die einige Zentimeter größer war als Kaitlyn, blickte mit glühenden Augen auf sie hinab. Ungeachtet der möglichen Folgen packte Kait sie am Arm und schüttelte sie.
»Warum versuchst du, mir Angst einzujagen? Hasst du mich, weil ich übernatürlich veranlagt bin?«
Marisol lachte kurz.
»Willst du, dass ich weggehe? Ist es … ach, was weiß ich denn … Eifersucht oder so etwas?« Kaitlyn suchte verzweifelt nach einer Erklärung für Marisols Verhalten.
Marisol presste nur die Lippen aufeinander.
»Na gut«, sagte Kaitlyn mit zittriger Stimme. »Dann muss ich wohl Joyce fragen.«
Sie war schon fast an der Treppe, als Marisol sprach.
»Joyce kann dir nicht helfen. Sie weiß nicht, was hier wirklich vor sich geht. Bei der Pilotstudie war sie nicht dabei – ich schon.«
»Was für eine Pilotstudie?«, fragte Kaitlyn, ohne sich umzudrehen.
»Ist doch egal. Die Sache ist einfach die, dass du
von Joyce keine Hilfe zu erwarten hast. Sie will nur ihre Experimente durchführen, ihren Namen in den Fachzeitschriften lesen. Sie ist blind dafür, was hier wirklich geschieht. Deshalb hat Zetes sie auch eingestellt. «
»Aber was hat das zu bedeuten?«, fragte Kaitlyn und wedelte mit dem Papier.
Schweigen. Kaitlyn drehte sich um. Noch immer schwieg Marisol.
»Gott, bist du schwer von Begriff«, sagte sie schließlich. »Erinnerst du dich schon nicht mehr an das Experiment von heute? Hast du dich nicht gefragt, wie du das Bild von den Trauben empfangen hast?«
Kaitlyn erinnerte sich an die kaleidoskopartige Bilderflut. »Ich nehme an, mit meinen übersinnlichen Kräften«, sagte sie, aber sie hörte selbst den zweifelnden Ton in ihrer Stimme.
»Wenn du wirklich übersinnliche Fähigkeiten hättest, dann wüsstest du, warum du hier bist. Und dann würdest du das nächste Flugzeug nach Hause nehmen. «
Kaitlyn hatte die Nase voll von Marisols vagen Anspielungen. »Worüber redest du da eigentlich? Warum kannst du es mir nicht einfach geradeheraus sagen? Aber vielleicht hast du ja auch gar nichts zu sagen …« Sie schrie jetzt fast.
Marisol war bei Kaitlyns Ausbruch zusammengezuckt.
Sie stieß ihr den Ellbogen in die Seite und drängelte sich an ihr vorbei. An der Treppe sah sie sich noch einmal um und fauchte: »Ich soll dir ausrichten, dass du zum Abendessen kommen sollst.«
Kaitlyn ließ sich gegen die Wand sinken.
Dieser Tag war die reinste Achterbahnfahrt gewesen. Und Marisol hatte ganz offensichtlich nicht alle Tassen im Schrank. Allerdings erklärte das nicht, was heute während des Experiments geschehen war, nachdem Joyce die zusätzliche Elektrode auf Kaitlyns Stirn befestigt hatte.
Über meinem dritten Auge, dachte Kait. Sie blickte das mittlerweile zerknitterte Stück Papier an. Das zusätzliche Auge auf dem Bild starrte sie grotesk an, als wollte es ihr etwas sagen.
Ich muss mit jemandem reden. Damit komme ich nicht allein zurecht. Ich brauche Hilfe.
Nach diesem Entschluss ging es ihr schon besser. Kaitlyn knüllte den Zettel zusammen und steckte ihn sich in die Tasche. Dann ging sie hinunter zum Abendessen.
»Was hat das mit mir zu tun?«, fragte Gabriel und warf das Papier wieder Kaitlyn zu. Er lag auf dem Bett und las eine Zeitschrift über Autos – teure Autos. »Das ist doch nicht mein Problem.«
Kaitlyn fing
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