Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
ihm, da er so grimmig dreinblickte, ohne Verlegenheit ins Gesicht sehen. Er glaubte ihr, und das machte die ganze Sache noch schwerwiegender. Hier war etwas faul.
»Und ich frage mich, warum er Gabriel hergebracht hat«, sagte Rob.
»Ja«, sagte Kaitlyn zögernd. Irgendwann musste sie mit Rob über Gabriel sprechen, aber nicht jetzt. »Und was sagt uns das alles?«
»Ich weiß nicht.« Rob betrachtete noch einmal die Zeichnung. »Aber wir müssen es herausfinden. Am besten reden wir mit Joyce.«
Kaitlyn schluckte. Es war erheblich leichter gewesen, in der Wut damit zu drohen, als Joyce nun ernsthaft darauf anzusprechen. Aber natürlich hatte Rob recht.
»Dann machen wir das«, sagte sie.
Joyce’ Zimmer lag hinter der kleinen holzgetäfelten Diele unter der Treppe, die auch zum vorderen Labor führte. Ursprünglich war dort ein Solarium gewesen. Der Raum war glasverkleidet, und die zweiflüglige Fenstertür war zudem so groß, dass aus dem Wohnzimmer oder dem Flur jeder direkt hineinsehen konnte. Nur Joyce konnte in einem solchen Zimmer wohnen, das keinerlei Privatsphäre bot, dachte Kait. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun, dass Joyce immer gut aussah, egal, ob sie in einem maßgeschneiderten Kostüm ihrer Arbeit nachging oder ob sie es sich in einem rosafarbenen Freizeitanzug im Bett bequem machte – wie an diesem Abend.
»Hallo, ihr beiden«, sagte sie und blickte von dem Laptop auf, den sie auf dem Schoß hatte. Das Licht der Nachttischleuchte spiegelte sich in den Glasflächen.
Kaitlyn setzte sich behutsam aufs Bett, und Rob zog den Schreibtischstuhl heran. Er hatte noch immer die Zeichnung in der Hand.
Joyce sah von einem zum andern. »Warum so ernsthaft? «
Kaitlyn nahm einen tiefen Atemzug, doch da sagte Rob schon: »Wir müssen mit Ihnen sprechen.«
»Ja?«
Kait und Rob wechselten einen kurzen Blick. Dann fasste sich Kaitlyn ein Herz: »Es geht um Marisol.«
Joyce hob beide Augenbrauen. »Ja?«
»Sie hat merkwürdige Sachen zu Kaitlyn gesagt«, erklärte Rob. »Dass es im Institut gefährlich sei. Und sie hat … das hier auf Kaits Zeichnung geschrieben.«
Joyce sah die beiden verwirrt an, nahm den Zettel und betrachtete ihn. Kaits Magen verkrampfte sich. Sie hielt den Atem an.
Als Joyce den Kopf zurückwarf, dachte Kait einen Augenblick, sie würde anfangen zu schreien. Stattdessen brach sie in Gelächter aus.
Sie lachte und lachte, melodiös, aber völlig unkontrolliert. Nach einer Minute beruhigte sie sich langsam, doch als sie Kaitlyn und Rob ansah, brach es erneut aus ihr heraus.
Kaitlyns Mund verformte sich unwillkürlich zu einem Lächeln, aber es war das höfliche, unglückliche Lächeln eines Menschen, der darauf wartet, einen Witz erklärt zu bekommen. Endlich ließ sich Joyce gegen die aufgestellten Kissen sinken und wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Es tut mir leid, das ist eigentlich überhaupt nicht komisch. Ihr habt nur so furchtbar besorgt ausgesehen,
dabei sind es wahrscheinlich ihre Medikamente. Ich vermute, sie nimmt sie nicht.«
»Marisol nimmt Medikamente?«, fragte Rob.
»Ja. Und es geht ihr gut, wenn sie sie nimmt. Nur manchmal vergisst sie es oder glaubt sie nicht mehr zu brauchen, und dann, na ja. Versteht ihr?« Joyce wedelte mit dem Zettel. »Ich vermute, sie meint das symbolisch. Sie hat schon seit jeher die Befürchtung, dass paranormal veranlagte Menschen ihre Kräfte missbrauchen könnten. Du hast das nicht wörtlich genommen, hoffe ich?«, fragte sie Kait.
Sie musste sich offenkundig um ein ernstes Gesicht bemühen.
Kaitlyn wäre am liebsten im Boden versunken.
Wie hatte sie nur so dumm sein können! Natürlich gab es eine logische Erklärung. Das hätte ihr doch klar sein müssen. Stattdessen hatte sie sich in Marisols seelische, geistige oder sonstige Probleme eingemischt.
»Es tut mir leid«, keuchte sie.
Joyce winkte ab und biss sich auf die Lippen, um nicht wieder zu lachen. »Ach was.«
»Nein, es tut mir wirklich leid. Es war nur irgendwie unheimlich, und ich habe nicht verstanden … Ich dachte mir schon, dass es eine einfache Erklärung geben muss, aber …« Kaitlyn atmete tief ein. »Oh Gott, ich hoffe, wir haben ihr keine Schwierigkeiten eingebrockt.«
»Nein, aber vielleicht gebe ich besser Mr. Zetes Bescheid«, sagte Joyce nun ernster. »Er hat sie schließlich eingestellt, schon vor mir übrigens. Ich glaube, sie ist eine Freundin seiner Tochter.«
Mr. Zetes hatte eine Tochter? Müsste die nicht eigentlich viel älter
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