Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
sie auch, was gerufen wurde.
»Hilfe! Mein Gott! Hilf mir doch jemand! Schnell!«
»Das ist Lewis!«, sagte Kait.
Die drei stürzten durch das Esszimmer in die Küche. Die Rufe verstummten.
»Oh nein«, sagte Anna.
Lewis stand am Waschbecken und atmete schwer. Zu seinen Füßen lag ein unförmiges Etwas mit mahagonifarbenen Haaren.
Marisol.
»Was ist passiert?«, keuchte Kait. Lewis schüttelte nur den Kopf. Rob war sofort auf die Knie gegangen und drehte Marisol vorsichtig um. Als Kait ihr Gesicht sah, zitterten ihr unwillkürlich die Beine. Trotz ihres olivfarbenen Teints sah Marisol kreidebleich aus. Sogar die Lippen waren blass. Ihre Augen waren leicht geöffnet, sodass im schmalen Schlitz der weiße Augapfel zu sehen war.
»Hast du den Notarzt gerufen?«, fragte Anna ruhig.
»Das bringt nichts mehr«, sagte Lewis mit erstickter Stimme. Er klammerte sich ans Waschbecken und blickte zu Boden. Aus seinem sonst lausbubenhaften Gesicht sprach das blanke Entsetzen. »Sie ist tot. Ich weiß, dass sie tot ist.«
Kaitlyn lief es eiskalt den Rücken hinunter. Was Rob da umgedreht hatte, war nicht Marisol, sondern Marisols Leiche. Das Wort »tot« veränderte alles. Kait wollte die Leiche auf keinen Fall berühren.
Trotzdem zwang sie sich dazu, kniete sich hin und legte die Hand auf Marisols Brust.
»Ich glaube, sie atmet.«
»Du hast recht, sie lebt«, sagte Rob zuversichtlich.
Er hatte die Augen geschlossen und fuhr mit den Fingern über Marisols Schläfen. »Es ist nur noch wenig Lebenskraft in ihr, aber sie lebt. Ich werde versuchen, ihr zu helfen.« Er verstummte und saß reglos da, ganz und gar auf Marisol konzentriert.
Im Hintergrund hörte Kait, wie Anna den Notarzt verständigte.
»Was ist nur passiert, Lewis?«, fragte sie noch einmal.
»Sie hatte so eine Art … Es sah aus wie ein epileptischer Anfall. Ich bin so früh heruntergekommen, weil ich Hunger hatte, und sie stand hier und schnitt Grapefruits. Ich habe Hallo gesagt, aber sie war ziemlich schlecht drauf. Und dann ist sie auf einmal umgefallen. « Lewis schluckte und blinzelte heftig. »Ich habe versucht, sie aufzuheben, aber sie hat unablässig gezuckt und gezittert. Und dann hat sie sich gar nicht mehr bewegt. Ich dachte, sie sei tot.«
Die Medikamente, dachte Kait. Wenn Marisol die Medikamente, die sie gegen die Anfälle nahm, eigenmächtig abgesetzt hatte … Oder hatte sie vielleicht Diabetes. Konnte man bei Diabetes epileptische Anfälle bekommen?
»Wo ist Joyce?«, fragte sie und stand abrupt auf. Es war die erste Frage, die sie hätten stellen müssen. Joyce war immer vor ihnen in der Küche, trank schwarzen Kaffee und half Marisol, das Frühstück zu machen.
»Da ist ein Zettel am Kühlschrank«, sagte Anna. Unter einem Magneten in der Form einer Erdbeere hing eine Notiz in flüchtiger Schrift.
Marisol
Du hast gestern die falschen Kaffeefilter gekauft. Tausche sie rasch um. Fang schon mal mit dem Frühst. an: drei Grapefruits schneiden, Muffins backen. Teig in blauer Schüssel im Kühlschrank. Wo ist der Beleg?
I
»Sie ist im Laden«, sagte Kait. In diesem Moment hörten sie die Haustür aufgehen.
»Joyce!«, riefen Lewis und Kait wie aus einer Kehle. Kaitlyn lief ihr entgegen. »Joyce, mit Marisol ist etwas passiert!«
Joyce rannte in die Küche. Als sie Marisol auf dem Boden liegen sah, warf sie ihre Jute-Einkaufstasche in die Ecke; mehrere Äpfel kullerten heraus.
»Oh Gott, was ist passiert?«, fragte sie schrill. »Atmet sie?« Ihre Hände flogen von Marisols Handgelenk zum Hals, auf der Suche nach einem Puls.
Rob antwortete nicht. Er saß im Lotussitz neben Marisols Kopf, die Augen geschlossen, die Finger an ihren Schläfen. Die Morgensonne, die durch das Ostfenster fiel, schien auf seine braun gebrannten Schultern.
»Ich glaube, sie atmet«, flüsterte Lewis. »Er versucht, ihr zu helfen.«
Joyce sah Rob scharf an, dann entspannte sich ihr verkrampftes Gesicht. »Gut«, sagte sie.
»Hat sie epileptische Anfälle?«, fragte Kaitlyn leise, aber eindringlich. »Lewis hat gesagt, sie hätte einen Anfall gehabt.«
»Was? Nein«, sagte Joyce abwesend. »Oh, du meinst, wegen der Medikamente? Nein, es ist etwas völlig anderes. Er hat gesagt, ein Psychiater hätte sie verschrieben. Wer weiß, vielleicht hat sie eine Überdosis genommen. Ich habe noch gar nicht mit ihr darüber reden können.«
»Ich weiß. Wir haben Ihre Notiz gesehen«, begann Kait. »Aber – «
»Hört mal, Sirenen«, sagte Anna.
Danach ging
Weitere Kostenlose Bücher