Visionen (Kobaltblaue Träume) (German Edition)
Wangen verabschiedet hat.
„Kim … sag was! Du bist bleich wie ein Laken.“
Kays ängstliche Stimme reißt mich aus meiner Starre.
„Mir … ist kalt“, stammele ich und umarme mich selbst, um meinen Worten eine optische Unterstützung zu verleihen.
„ Soll ich dir deine Jacke holen? ich hätte aber auch wirklich daran denken können und sie dir mit raus bringen sollen“, plappert Kay und ich weiß genau, dass er das nur tut, um mich nicht mit Fragen zu löchern.
Denn in dem Moment, als er in mein Gesicht sah, habe ich meine Schilde hochgefahren und meinen Liebsten somit von meinen Gedanken ausgesperrt.
„ Immerhin“, fährt Kay kopfschüttelnd fort, „haben wir erst Ende März und gerade mal 19 Grad. Und das auch nur, wenn die Sonne scheint. Aber durch diese Wolkendecke dringt ja nicht mal der kleinste Sonnenstrahl … wobei, könnte er ja auch gar nicht. Ist ja keine Sonne mehr da ...“, plappert er konfus daher.
„Kay?“
Der Schmerz, den ich in seinem Gesicht für einen winzigen Moment erkenne, raubt mir den Atem.
„ Sprich mit mir, Kim!“
Vier kleine Worte, dir meine Vermutung bestätigen.
Kay weiß ganz genau, dass etwas vorgefallen ist.
Sein hilfloser Versuch, etwas aus mir heraus zu bekommen, bringt mich fast um.
Ich räuspere mich.
„Es ist nichts, Kay. Wirklich. Mir geht’s gut. Ich friere nur. Und es wäre wirklich lieb, wenn du mir meine Jacke holen würdest.“
Er nickt nur und dreht sich um, um ins Haus zu gehen.
Ich weiß genau, wie sehr ich Kay, den Jungen, den ich über alles liebe, gerade verletze.
Wir beide stehen uns so unglaublich nah, dass wir uns ohne ein Wort unterhalten können. Und das nicht nur im übertragenen Sinn.
Nein, Kay und ich können via Gedankenübertragung kommunizieren.
Wir wurden quasi füreinander gemacht … im wahrsten Sinne des Wortes.
Seit wir Klarheit über unsere Herkunft erlangt haben (und ich mich nicht mehr mit den Schrecken und Kümmernissen herumschlagen muss, Kay könne mein Bruder sein) waren wir noch nicht einen Tag voneinander getrennt und genießen unsere Liebe zueinander.
Vorzugsweise in der Nacht …
Geheimnisse haben wir keine voreinander. Wieso auch?
Unsere Gefühle, von denen ich lange Zeit glaubte, sie seien verboten, sind tief und echt.
Und nachdem ich jetzt weiß, wer ich wirklich bin und was ich so alles drauf habe, strotze ich geradezu vor Selbstvertrauen.
Kay kann sich vollkommen auf seine Liebe zu mir konzentrieren. Er muss sich nicht mehr von seinem ständigen Bedürfnis, mich beschützen zu müssen, ablenken lassen.
Eigentlich!
Allerdings habe ich ihn mit meinem seltsamen Benehmen wohl gerade wieder um einige Wochen zurück geworfen.
Doch auch wenn mich in dieser Minute Selbstvorwürfe zerfressen, weiß ich, dass es hundert mal besser ist, Kay im Unklaren darüber zu lassen, was da eben passiert ist, als ihm zu offenbaren, was ich gesehen habe.
Vielleicht habe ich ja auch nur Hirngespinste. Was weiß ich schon?!
Seit einigen Wochen sind wir erst wieder auf Castillian-High zurück und werden hier unsere Schulzeit beenden … sofern wir im Sommer unsere Abschlussprüfungen bestehen.
Und soweit ich mich erinnere, gibt es auf ganz Castillian nicht einen einzigen Ort, an dem diese Fliesen zu finden sind.
Worüber mache ich mir also Gedanken?
Überhaupt … heute haben Selena und Phil geheiratet und ich habe nicht vor, den anderen mit meinem Scheiß die gute Laune zu verderben.
Als mein Bruder Vic neben mir auftaucht, weiß ich allerdings, dass es hierfür zu spät ist.
„Schwesterchen“, sagt er lächelnd und legt mir meine Strickjacke über die Schultern, „warum kommst du nicht wieder rein?“
Vic tut so, als sei alles in Butter.
Als ob er mich damit täuschen könnte.
Ich weiß ziemlich sicher, dass Kays Verwirrung ob meines seltsamen Benehmens den anderen gegenüber nicht unbemerkt geblieben ist. Dazu stehen wir uns zu nah.
Selbst wenn die anderen Mitglieder der Spezialabteilung KSP nichts Seltsames an Kays Verhalten bemerkt haben sollten, so weiß ich doch, dass es gleichsam unmöglich ist, dass Vic und Renee, meine Zwillingsbrüder, es nicht sofort wahrgenommen haben.
Die drei Jungs sind schließlich von Anfang an zusammen gewesen.
Sie … und natürlich Phil.
Vermutlich hat er Kay sofort ins Kreuzverhör genommen.
Zum Glück muss Kay ihn nicht anlügen, weil er ja tatsächlich nichts weiß.
Zum Pech werde ich wohl die nächste sein, die Phils untrüglichem Spürsinn nicht entgehen
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