Visite bei Vollmond
fast
abgestochen hätten. »Anna.« Ich wich einen weiteren Schritt zurück, woraufhin
er gleichzeitig vortrat.
»Ganz genau. Deswegen sind wir
hier. Wir wollen das Blut. Aber ich wette, das wussten Sie bereits.« Er drückte
seine Zigarette an dem Kernspintomografen aus und grinste mich träge an. »Wer
weià ⦠wenn ich Sie umbringe, geben sie mir vielleicht sogar etwas davon ab.«
»Bleiben Sie sofort stehen.«
Ich hatte das Gewehr sinken lassen, denn bei seiner Schnelligkeit würde ich
niemals rechtzeitig auf ihn anlegen können. Stattdessen schob ich eine Hand in
die Tasche, in der die Reservepfeile lagen.
»Tut mir leid, Lady, aber ich
kann nicht zulassen, dass Sie sich einmischen.« Er stand jetzt direkt vor dem
Tomografen. Ich wich noch weiter zurück und schob Gideon hinter mich.
»Wenn ich Sie wäre, würde ich
mich nicht vom Fleck rühren«, sagte ich und versuchte, dabei möglichst hilflos
auszusehen.
»Warum nicht? Und wie wollen
Sie mich daran hindern?« Er musterte mich schmunzelnd.
»Weil ich etwas weiÃ, das Sie
nicht wissen.«
»Tatsächlich?« Er lachte. »Ich
lebe schon sehr, sehr lange. Ich habe die Pocken und die Pest überlebt. Und ich
werde hier ganz sicher nicht sterben.« Dann verschwand seine Belustigung, und
er starrte mich durchdringend an. »Aber Sie schon.«
Gideon drückte sich warnend
gegen meinen Rücken. Ich zog einen Betäubungspfeil aus der Tasche und
schleuderte ihn auf den Tageslichtagenten. Das Geschoss flog wie ein Speer auf
ihn zu, angezogen von dem kraftvollen Magneten in dem Gerät hinter ihm. Mit
voller Wucht bohrte es sich in seine Haut und hinterlieà ein breites Loch auf
Höhe des Herzens. Ein fröhliches Ping zeigte an, dass der Pfeil den Tomografen
erreicht hatte.
Vollkommen verblüfft fiel Hale
in sich zusammen und bildete mit seiner Zigarettenasche ein ansehnliches
Häufchen. Wutentbrannt stürmte ich vor und trampelte durch den Staub. »Ach ja?
Der Kernspintomograf ist eben immer an, Arschloch.« Dann rannte ich zu Gideon
und packte seinen Arm. Zusammen humpelten wir zurück auf den Flur.
Nachdem wir diesen
Korridor auch noch hinter uns gebracht hatten, gingen wir durch das Treppenhaus
ins Erdgeschoss hinauf. Drei Flure später standen wir endlich am Eingang des
Transfusionszentrums. Ich schwenkte Meatys Ausweis vor dem Sensorfeld, aber das
Schloss öffnete sich nicht. Gideon schob mich beiseite.
»Edie?«
Als ich mich umdrehte, stürmte
Sike auf mich zu. »Edie!«
»Pssssst!«
»Nach deiner SMS bin ich sofort
losgefahren. Verdammt, was ist denn hier los? Da drauÃen wimmelt es nur so von
Werwölfen.«
»Die sind hinter dem â¦Â« Ich
zögerte. Würde sie mir helfen oder versuchen zu verhindern, was ich nun
vorhatte? Gideon hatte das Schloss geknackt, und ich öffnete die Tür. »Komm
einfach mit rein.«
Sobald ich die Tür hinter uns
zugezogen hatte, machte Gideon sich daran, sie wieder zu verschlieÃen. In
diesem Raum floss so viel Strom, dass er fast schon summte â Kühlschränke,
Mikroskope, Prüfgeräte, eben alles, was in einem Krankenhaus ohne Unterbrechung
laufen muss. Das County war ein Vierundzwanzigstundenbetrieb â obwohl es im
Moment wirkte wie das Versuchslabor einer Geisterstadt, leer und unheimlich
still, abgesehen von den ungebetenen Gästen, die drauÃen herumhuschten. An
einer Wand zogen sich brüchige Drahtglasfenster aus den Sechzigern entlang, die
nur mit Metallstäben gesichert waren.
»Wo sind wir hier?« Sike
wanderte durch den Raum.
Ich holte Meatys Schlüsselbund
aus der Tasche. »Du wirst schon sehen.« Langsam humpelte ich an der Wand
entlang, immer auf der Suche nach dem verschlossenen Kühlschrank, den nur mein
Schlüssel öffnen könnte â und ich fand ihn.
Klein und quadratisch wie ein
x-beliebiger Medikamentenschrank, den es auf jeder Station gab. Doch mein
Schlüssel passte und drinnen stapelten sich kleine Fläschchen und Blutbeutel.
Alle trugen denselben Stempel: Y4 .
»Das ist eure letzte Chance,
alles wieder geradezubiegen, Schatten!«, rief ich Richtung Decke. Wenn das
alles nur irgendein bescheuerter Test gewesen war ⦠Keine Antwort. »Also gut.«
Ich schnappte mir die Plastikbeutel aus dem Kühlschrank und warf sie
stapelweise in ein Waschbecken.
»Edie, nicht!« Sike fing
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