Visite bei Vollmond
überall
Handyverbotsschilder herum, aber die Schwestern und Ãrzte telefonierten auch
ständig â und bisher hatte ich noch nie erlebt, dass ein iPhone einem
Schrittmacher den Garaus gemacht hätte.
»Nein, ich muss rausgehen.«
Ich trat ihr in den Weg. Meine
Pause würde in fünfzehn Minuten anfangen. Aus irgendeinem wahrscheinlich
unschönen Grund brauchte Sike mich, und ich wiederum brauchte ein paar
Ratschläge von Sike. Aber wenn Luz jetzt ging und bei ihrer Rückkehr eine
Pausenvertretung hier saÃ, die wahrscheinlich weniger weichherzig war als ich,
durfte sie vielleicht nicht wieder zu Javier rein.
Offenbar stand mir dieses
Problem ins Gesicht geschrieben. »Sie wissen doch bestimmt, wie es ist, gewisse Verpflichtungen zu haben, oder?«, fragte sie tiefgründig.
Ich atmete tief durch.
»Allerdings. Man sieht es mir vielleicht nicht an, aber das weià ich durchaus.«
Sie nickte. »Dann verstehen wir
uns. Bin gleich zurück.« Damit kippte sie den Rest von ihrem Kaffee runter und
ging.
Die nächsten fünf Minuten
lehnte ich am Türrahmen des Krankenzimmers. Javier konnte mich vom Bett aus
nicht sehen. Er war mein einziger Patient, was bei einer Schicht auf der
Unfallstation fast schon an ein Wunder grenzte. Es war nicht gut, wenn er
allein blieb, und mir fiel auch keine gute Ausrede ein, warum ich weggemusst
hätte. SchlieÃlich nahm ich Luzâ Platz am Kopf des Bettes ein.
»Möchten Sie über irgendetwas
sprechen?«, fragte ich ihn.
»Nicht mit Ihnen.« Kurze Pause.
»Nehmen Sieâs nicht persönlich.«
Bei dem Versuch, die Kommunikation
mit dem Patienten aufrechtzuerhalten, läuft man immer auch Gefahr, sich zu sehr
auf ihn einzulassen. Selbst ich war mir nicht immer sicher, auf welcher Seite
dieses schmalen Grates ich mich gerade befand. Aber vor allem saà ich hier, um
zu zeigen, dass ich mit ihm fühlte, nur für den Fall, dass es ihm etwas
bedeutete.
Der Sekundenzeiger marschierte
vorwärts. Bald würde Sike mich holen kommen. Hoffentlich blieb sie dabei
taktvoll, wie auch immer sie diesen Begriff definieren mochte.
Ich konnte die Zeit auch
totschlagen, indem ich den Artikel las, den die Stationsschwester mir gegeben
hatte. Aber würde es etwas ändern, wenn ich wusste, wer sonst noch verletzt
worden oder warum er gestorben war? Eigentlich nicht. Ich hatte hier einen Job
zu erledigen, ganz egal, wie die Umstände aussahen. Manchmal aber fragte ich
mich, wo dieser Job endete â und ob ich nicht einfach all meine Gedanken mit in
den Wäschewagen schmeiÃen und einfach nach Hause gehen sollte.
Tief in Gedanken stützte ich
die Ellbogen auf meine Knie und lieà den Kopf hängen. Javier war eingenickt.
Luzâ Rückkehr schreckte mich
auf. Mit einem misstrauischen Blick betrat sie das Zimmer und stellte sich
neben mich.
»Irgendwelche Veränderungen?«,
fragte sie.
»Ich fürchte nein.« Dann merkte
ich, dass sie zitterte. »Alles in Ordnung?«
»Es geht mir gut«, erwiderte
sie.
Entweder beherrschte sie die
Kunst der Verdrängung wirklich hervorragend, oder sie war so sehr daran
gewöhnt, stark sein zu müssen, dass sie selbst jetzt nicht damit aufhören
konnte.
»Morgen wird er mich nicht mehr
spüren können, oder?«, fragte sie mich.
Ich nickte. »Es tut mir so
leid.« Nicht einmal annähernd konnte ich mir ihren Verlust vorstellen. Ihre Wut
war so greifbar, dass ich fast spüren konnte, wie die Atome ihres Körpers
vibrierten â eine falsche Bewegung und sie würde explodieren.
»Das ist nicht fair.«
»Nein, ist es nicht«,
bestätigte ich, weil sie vollkommen recht hatte. Damit drehte ich mich um und
wollte gehen.
Ich kam genau drei Schritte
weit, bevor sie mich am Arm packte und in den Teil des Zimmers zog, der durch
den Vorhang abgeschirmt war.
»Was wird Ihrer Meinung nach
passieren, wenn ich ihm das hier gebe?«, flüsterte sie und streckte mir ihre
Hand entgegen. Darin lagen vier kleine Glasphiolen mit einer klaren
Flüssigkeit.
»Kommt darauf an, was das ist.«
Ich klopfte gegen ein Fläschchen und sah zu, wie der Inhalt in Bewegung geriet.
»Luna Lobos.«
Dafür reichte mein Spanisch
noch. »Wolfsmond?«, hakte ich nach. Sie nickte.
»Das verrät mir immer noch nicht,
was es ist.« Ich nahm eine der Phiolen in die Hand. »Sie dürfen ihm keine
Drogen geben,
Weitere Kostenlose Bücher