Vita Nuova
vor. Normalerweise gehen sie wieder so gegen neun, aber Frida bleibt jetzt. – Gehen wir nach unten in den Weingarten?«
»Nein, nein, wir drehen jetzt besser um. Es ist ziemlich heiß in der Sonne, und Sie haben nichts auf dem Kopf.«
»Ich trage keinen Sonnenhut, nie.«
»Nun ja, Sie haben aber auch wundervolles, dickes Haar. Trotzdem, man kann nicht vorsichtig genug sein, nicht wahr, Carabiniere?«
»Wie bitte, was? O ja, natürlich, Maresciallo.«
»Eine ziemlich ungewöhnliche Arbeitszeit für die beiden Mädchen, finden Sie nicht?«
»Wegen Mamma. Es geht ihr nicht gut, und sie schläft sehr schlecht. Sie nimmt Tabletten und steht immer erst sehr spät auf.«
»Bis auf gestern natürlich, bei all dem Lärm … aber nein, Sie haben ja gesagt, dass Sie sie wecken mussten, nicht wahr? Ich möchte sie möglichst wenig belästigen. Es hat sie doch sehr mitgenommen, und ich weiß ja, dass ihre Gesundheit angegriffen ist … aber ich muss sie zumindest fragen, ob sie irgendetwas gehört hat.«
»Hat sie nicht. Kann sie doch gar nicht. Ich hab Ihnen doch gesagt, dass sie Schlaftabletten nimmt. Und sie trägt Ohrstöpsel. Ich hab sie nicht geweckt, das hat die Frau von gegenüber getan, als sie mit mir rübergekommen ist. Sie hat ganz schön lange gebraucht, um Mamma um diese Uhrzeit wachzukriegen.«
»Ah ja, Signora Donati. – Nehmen wir doch diesen Weg hier. – Der Carabiniere hat gerade mit ihr gesprochen. Kennen Sie sie gut?«
Sie antwortete nicht sofort. Ihr Blick wanderte aufwärts. Er folgte ihren Augen: der Turm. Es würde lange dauern, bis sie wieder dorthin schauen konnte, ohne das Bild ihrer toten Schwester vor Augen zu haben. Er hatte ihr heute einiges zugemutet, aber wen hätte er sonst um Hilfe bitten können? Die Mutter ganz bestimmt nicht.
»Wie bitte? Was haben Sie gesagt?«
»Signora Donati? Kennen Sie sie gut?«
»Wer soll das sein?«
»Die Nachbarin, die Ihnen gestern geholfen hat.«
»Kenn ich nicht.«
Natürlich nicht, was hatte er bloß erwartet? Um wie viel einfacher war es doch, einen Mord in den Vierteln der Altstadt zu untersuchen, wo jeder jeden kannte!
»Sie sind immerhin dorthin gelaufen, um Hilfe zu holen.«
»Nein, bin ich nicht. Ich wollte einfach nur weg. Ich hatte Angst, und er war irgendwo dort draußen, und … und ich hab geschrien … Ich habe über Ihre Frage von gestern nachgedacht … ob ich jemanden gesehen habe, meine ich …«
»Und? Ist Ihnen etwas eingefallen?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich dachte … Ich war so durcheinander und weiß nicht mehr so genau, aber …«
»Die Person, die Sie gesehen haben, haben Sie sie erkannt? Sie brauchen keine Angst zu haben, Namen zu nennen. Wenn Sie sich jetzt irren und das später korrigieren müssen, das macht gar nichts.«
»Wirklich nicht?«
»Natürlich nicht. Ich schreibe nichts auf, das sehen Sie doch, oder? Und der Carabiniere schreibt auch nichts auf, oder machen Sie etwa Notizen?«
»Ich? Äh … nein, natürlich nicht.«
»Nach so einem schrecklichen Schock ist es ganz natürlich, dass Sie durcheinander und verängstigt sind. Wenn Sie die Sache ruhig angehen, wird die Erinnerung nach und nach zurückkehren. Wir werden nichts protokollieren, bis Sie ganz sicher sind.«
Silvana schwieg ein Weilchen. Die Schritte auf dem Kies knirschten vernehmlich in der Stille. Der Maresciallo drängte sie nicht, sagte ihr nichts vor. Sie hatte gesagt: ›Er war dort draußen‹, damit hatte sie nicht Signora Donati gemeint, die Blumen gegossen hatte, das Mädchen hatte einen Mann gesehen. Aber er durfte ihr nichts einreden. Sie hatte eine zu fügsame Persönlichkeit, um eine wirklich gute Zeugin zu sein. Wie so viele Menschen, die in ihrer Trauer nach jedem Strohhalm griffen, würde sie wahrscheinlich nur zu bereitwillig das sagen, was er hören wollte.
»Es war ein Mann.«
»Hat sie tatsächlich gesagt, dass sie einen Mann gesehen hat? Sie haben es ihr nicht in den Mund gelegt? Ach, was rede ich da? Natürlich haben Sie das nicht, Sie sind schließlich ein erfahrener Mann, der seinen Job versteht. Ausgezeichnet!« Der Staatsanwalt grinste breit und wirkte sehr zufrieden.
Glücklicherweise hatte er die Läden seines Büros geschlossen und die Tischlampe eingeschaltet. Guarnaccia hatte immer einen großzügigen Vorrat sauberer, weißer Taschentücher einstecken, aber er fühlte sich wohler, wenn er keine Sorge haben musste, dass seine lichtempfindlichen Augen ausgerechnet im Büro von De Vita zu tränen
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