Vita Nuova
verschoben, weil wir wegen dieser Sache hier wohl auch eine abhalten müssen … Sie sehen ja, was hier los ist.«
»Klar, verstehe. Komisch, wer hätte gedacht, dass der Mord an einem kleinen Zigeunermädchen von größerem öffentlichem Interesse zu sein scheint als der an einer jungen Frau aus gutem Hause?«
»Nun ja, der Bürgermeister macht sich bestimmt keine Sorgen um das Zigeunermädchen, eher um seine politische Zukunft. – Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
»Natürlich.« Auf dem Weg zum Auto fiel dem Maresciallo die Wohnung wieder ein. Zu spät! Der Fahrer hatte den Motor bereits gestartet. Der Kameramann drängelte sich durch die Touristenschar, um mit dem Capitano ins Rathaus zu kommen. Ein paar Jugendliche mit Shorts und Baseballkappen vergaßen für einen Augenblick ihr Eis und starrten den beiden neugierig hinterher. Der Kameramann allerdings verschwendete mit ziemlicher Sicherheit nur seine Zeit. Die Journalisten hatten dem Capitano nicht umsonst den Spitznamen ›das wandelnde Grab‹ gegeben.
»Wir hätten sie eigentlich schon früher finden müssen.« Der Kriminaltechniker zeigte ihm die Kugel in einer kleinen Plastiktüte.
Den Maresciallo überraschte es nicht sonderlich, dass die jungen Männer sie bis dato übersehen hatten. Der Nachttisch war ein antikes Stück, reich mit Schnitzereien verziert, und Holzwürmer hatten tiefe Spuren hinterlassen.
»Sie ist einfach hier im Holz verschwunden. Wenn wir nicht gewusst hätten, wo wir suchen müssen, hätten wir keine Chance gehabt …«
»Das wird den Staatsanwalt freuen.« Nicht, dass Guarnaccia sich über den Fund nicht auch gefreut hätte, aber er wäre gern endlich einmal allein in dem Raum gewesen. Abgesehen von ein paar kurzen Augenblicken gestern, hatte er noch keine Gelegenheit dazu gehabt. Zu viele Leute, die in alles ihre Nase steckten.
Wenn die Familienmitglieder ihm schon nichts verrieten, dann tat es vielleicht das Haus.
Die Fenster samt Läden waren alle geschlossen, und als die Spurensicherung endlich die starken Strahler eingepackt hatte und gegangen war, wirkte der Raum ausgesprochen dunkel, obwohl die Lichter brannten. Der Maresciallo wartete einen Moment, und schon bald hatten sich seine Augen an das Licht gewöhnt.
Damit die Schwester des Opfers gestern in das Zimmer geführt werden konnte, hatte man das Bett und auch den Boden mit Plastikplanen abgedeckt. Jetzt entfernte der Maresciallo diese wieder und deponierte sie draußen im Flur.
Dann blieb er stehen und ließ den Raum auf sich wirken.
Ungemachtes weißes Bett, rote, ausgetretene Bodenfliesen, glatt und glänzend vom Wachs, nur wenige dunkle, schwere Möbel, fast wie eine Klosterzelle, sah man einmal von der Unordnung in der einen Ecke des Raumes ab. Eine blutige Schleifspur, die in der Kreidezeichnung endete, zerbrochenes Glas vom Fotorahmen, das Bild samt Rahmen und Rückwand lag flach auf dem Nachttisch, wo die Kriminaltechniker es dort fotografiert hatten. Ein kleines, blondes Mädchen, ganz in Weiß, eine Aufnahme von einer Erstkommunion, mit einem kleinen, runden Loch darin. Der Maresciallo betrachtete das kleine Mädchen. Daniela. Sie war sehr dünn, die großen, ernsten Augen umrahmt von dunklen Schatten. In dieser Familie schien niemand gesundheitlich ganz auf der Höhe zu sein. Neben der Nachttischlampe standen zwei weitere Fotografien, auf einer war Daniela mit dem Baby im Taufkleid zu sehen, das andere, ein neueres, zeigte den kleinen Piero, der einen Holzlaster mit roten Rädern vor sich herschob. Die gestrige Durchsuchung hatte keine weiteren Fotos zutage gefördert. In dem Stockwerk über diesem Zimmer, Danielas Arbeitszimmer, hatte der Maresciallo einen Schreibtischkalender entdeckt, der aber keinerlei private Notizen enthielt. Ein paar Termine beim Zahnarzt, Seminare für die Doktorarbeit, eine Notiz, die Wäsche aus der Reinigung zu holen. Falls es sich tatsächlich um einen verheirateten Mann handelte, konnte er sich voll und ganz auf ihre Diskretion verlassen. Offenbar war es der jungen Frau tatsächlich gelungen, ihr Geheimnis mit ins Grab zu nehmen. Über dem Arbeitszimmer, ganz oben im Turm, befand sich noch ein Speicher. Leer.
»Sie hat immer Geheimnisse vor uns gehabt.«
Ein Speicher ohne Geheimnisse, ein Kalender ohne Geheimnisse.
Und doch hat sie dieses eine Geheimnis bewahrt.
Das Kinderzimmer war ein kleiner, freundlich wirkender Raum. Das Bett lag aufgeschlagen zum Lüften, ein flauschiges Tier mit einer spitzen Nase
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