Vita Nuova
tun, als wären wir eine glückliche Familie.‹
Hatte es schon angefangen, als das kleine Mädchen zehn Jahre alt war? Er musste an das Foto denken, ein viel zu dünnes Kind mit tiefen Rändern unter den Augen.
Paoletti im Krankenhaus, auch ein Bild, das er selbst gemalt, aber nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Ein weißes Bild mit einem weißen Krankenhausbett, verlogen und scheinheilig wie Paolettis Frömmelei.
Und der Staatsanwalt? De Vita? Trotz der üblichen Arroganz war er an jenem Tag nicht ganz so selbstsicher aufgetreten wie sonst. Auch wenn er zuerst im Krankenhaus gewesen war, so sah er sich dennoch mit einigen Dingen konfrontiert, mit denen er nicht gerechnet hatte, nicht hatte rechnen können, wie Signora Donati zum Beispiel, der Nachbarin von gegenüber, oder dass er statt dem üblichen Noteinsatz-Team plötzlich Guarnaccia gegenüberstand.
›Was sagt die Familie?‹
Auch das musste für De Vita eine absolut unberechenbare Größe sein. Was alles hatte diese hysterisch heulende Silvana wohl schon alles ausgeplaudert?
›Meinen Sie, dass sie die Wahrheit sagt?‹ Rückblickend hätte er mit einem klaren ›Nein‹ darauf geantwortet.
›Und die Mutter?‹
Guarnaccia glaubte der Frau, wie auch nicht? Genau aus diesem Grund hatte man ihn nicht zu ihr vorgelassen.
Die ersten Untersuchungsergebnisse des Pathologen am Tatort hatten De Vita damals nicht im Geringsten interessiert, der hatte ganz andere Dinge im Kopf, brachte lieber den Gedanken ins Spiel, es könne sich um einen Raubüberfall handeln. Vielleicht war er ja doch nicht ganz der üble Verbrecher, für den Guarnaccia ihn inzwischen hielt. Hatte viel zu verbergen, ja, aber ansonsten schien auch er ziemlich im Trüben zu fischen. Der Capitano, den der Maresciallo unter anderem wegen seiner hohen Intelligenz schätzte, hatte ihn schließlich auch davor gewarnt, einfach davon auszugehen, De Vita sei in den Mord verwickelt; möglicherweise versuche dieser nur, von seinen kriminellen Vergehen abzulenken.
»Hmmpf.« Der Maresciallo öffnete Fenster samt Laden hinter dem Sofa. »Ein bisschen mehr Licht«, murmelte er vor sich hin, »… und außerdem, soll ich etwa wirklich glauben, dass dieser Mord rein zufällig während De Vitas Rufbereitschaft passiert ist? Nein, nein …«
Er konnte sich gut an jenen Moment erinnern, als De Vita beschloss, nachdem er den Kriminaltechnikern eine ganze Weile gedankenverloren bei der Arbeit zugesehen hatte, dass ihm dieser dämliche und obendrein lahmarschige Maresciallo ganz hervorragend in den Kram passte … wie er ihm auf die Schulter geklopft und ihn breit angegrinst hatte …
›Was für eine Null, dieser Kerl, begreift aber auch rein gar nichts!‹
›Tja, das Untersuchungsergebnis ist eindeutig, Guarnaccia, oder wollen Sie die moderne Wissenschaft in Frage stellen?‹
Wissenschaft hin oder her, das Untersuchungsergebnis konnte seine Überzeugung nicht ins Wanken bringen. Piero war Paolettis Kind, und auf die eine oder andere Weise trug Paoletti die Schuld am Tod seiner Tochter.
Nachmittags beobachteten der Maresciallo und sein Fahrer, wie Silvana in dem Mini fortfuhr, um Piero aus dem Ferienhort abzuholen. Nach ungefähr vierzig Minuten kehrte sie mit dem Kind zurück, und kurz darauf ertönte fröhliches Planschen vom Swimmingpool. Guarnaccia stieg aus dem Wagen, ging um das Haus herum und betrachtete die Szene aus der Ferne. Paoletti saß in Badehosen in einem Liegestuhl. Die Zeitung, die er las, kaschierte seinen Bauch. Eine Manschette am Arm sollte seinen Blutdruck über einen Zeitraum von vierundzwanzig Stunden messen. Der kleine Piero strampelte fröhlich mit den Beinen, während Silvana ihn an den Armen durchs Schwimmbecken zog. Frida servierte Erfrischungsgetränke in hohen Gläsern. Auch sie trug einen Badeanzug, also war es ihr wohl gestattet, ebenfalls schwimmen zu gehen, was den Maresciallo ziemlich verwunderte. Oder war das genau Paolettis Masche, hier und da kleine Vergünstigungen zu gewähren und auf diese Weise seine Opfer in physischer wie psychischer Abhängigkeit zu halten?
Guarnaccia stand ganz in der Nähe der Kellerfenster. Dieses Mal konnte er sie deutlich sehen, und sie wusste das. Sie beobachtete dieselbe Szene wie er. Von dort unten hatte sie zwar keinen guten Überblick, aber zweifellos versuchte sie auch mitzubekommen, was am Pool gesprochen wurde. Als sie sich wieder zurückzog, tat er es ihr gleich. »Was ist da los?«, wollte der junge Carabiniere wissen,
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