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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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sie streiten, und eines Abends setzten sich alle viel zu ernst zu Tisch, was ganz ungewohnt für unsere Familie war. Schließlich erhob sich mein Vater aus seinem gewaltigen Sessel in der Mitte der Tafel, wo er als Herr seinen Platz hatte, und als hätte ihn jemand im Stillen ange-klagt, erklärte er:
    »Ich bin nicht bereit, ein paar alte Frauen zu schikanie-ren, weil sie Nadeln in Wachsfiguren gesteckt und Weihrauch verbrannt haben und alberne, bedeutungslose Beschwörungen murmeln. Diese alten Hexen haben seit ewigen Zeiten auf unserem Berg gelebt.«
    Meine Mutter zeigte einen zutiefst erschrockenen Ausdruck, und dann sammelte sie uns drei um sich und führ-te uns fort, Bartola, Matteo und mich - obwohl ich äußerst ungern mitging -, und sie befahl uns, zeitig zu Bett zu gehen.
    »Bleib gefälligst nicht mehr auf, um zu lesen, Vittorio!«, sagte sie.
    »Aber was hat Vater gemeint?«, fragte Bartola.
    »Ach, es geht um die alten Dorfhexen«, sagte ich. Ich benutzte das italienische Wort strega. »Immer wieder mal geht eine von ihnen zu weit, es gibt einen Streit, aber meistens dreht es sich nur um einen Zauber, der ein Fieber heilen soll, oder sonst etwas.« Ich hatte gedacht, meine Mutter würde mich zum Schweigen bringen, aber wie sie da auf der schmalen Stiege des Turmes stand, spiegelte sich Erleichterung auf ihrem Gesicht, während sie zumir aufsah:
    »Ja, ja, Vittorio, du hast ja so Recht. In Florenz lacht man über diese alten Weiber. Du kennst die Gattena doch selbst, was hat sie denn schon getan, als hin und wieder einen Liebestrank an die Mädchen zu verkaufen!«
    »Wir werden sie doch bestimmt nicht vor Gericht bringen!«, sagte ich, froh, dass sie meine Worte beachtete.
    Bartola und Matteo waren gefesselt: »Nein, nein, die alte Gattena doch nicht, bestimmt nicht. Gattena ist verschwunden. Sie hat sich davongemacht.«
    »Gattena?«, fragte ich, und als sich meine Mutter, die nicht bereit war, noch mehr zu sagen, abwandte und mir nur mit einer Geste bedeutete, meine Geschwister heil ins Bett zu bringen, da wurde mir erst der Ernst dieser Angelegenheit bewusst.
    Gattena war die Alte, die am meisten gefürchtet wurde, aber auch am komischsten war, und wenn sie weggegan-gen war, dann hatte sie vor etwas Angst. Nun, das war etwas Neues, denn ihrer Ansicht nach war sie diejenige, vor der man sich fürchten musste.
    Die nächsten Tage waren frisch und schön, und ich konnte sie, zusammen mit Bartola und Matteo, ungestört genießen, doch rückblickend kann ich mich daran erinnern, dass es eine Menge Unruhe gab.
    Eines Nachmittags kletterte ich zum höchsten Aussichts-punkt des alten Turmes, wo eine Wache, der alte Tori, wie wir ihn nannten, vor sich hin döste, und schaute von dort über unser Land, so weit das Auge reichte.
    »Na, Ihr werdet nichts finden«, sagte er.
    »Was meinst du?«
    »Rauch - nicht von einem einzigen Herdfeuer. Da ist nichts mehr.« Er gähnte und lehnte sich gegen die Mauer, sein altes Lederwams und sein Schwert drückten ihn nieder. »Alles ist in Ordnung«, sagte er und gähnte abermals. »Wenn sie das Stadtleben mögen oder für Francesco Sforza gegen Mailand kämpfen wollen, lasst sie laufen! Die wissen gar nicht, wie gut sie es hatten.«
    Ich wandte mich ab und ließ den Blick abermals über die Wälder und Täler schweifen, bis hin zu dem leicht duns-tigen blauen Himmel im Hintergrund. Es stimmte, die kleinen Bauernhöfe schienen wie in der Zeit erstarrt, aber wie konnte man so sicher sein? Der Tag war nicht besonders klar. Und außerdem war in unserem Haushalt doch alles ganz wunderbar.
    Mein Vater erhielt zwar Olivenöl, Gemüse, Milch, Butter und andere Produkte von den Dörflern, aber er war nicht darauf angewiesen. Wenn sie fanden, dass es an der Zeit war, weiterzuziehen, sollten sie doch.
    Zwei Abende später wurde mir ohne jeden Zweifel klar, dass alle an der Tafel ernstlich bedrückt waren, ohne es in Worte zu fassen; die Unruhe hatte auch meine Mutter erfasst, die sich ihres ewigen höfischen Geplappers enthielt. Nicht, dass man sich nicht unterhalten hätte, aber irgendetwas war anders.
    Doch wenn auch viele der älteren Verwandten im Stillen zutiefst verunsichert waren, so gab es auch einige, die nichts zu bemerken schienen, und die Pagen bedienten bei Tisch ganz munter, und einige Musikanten, die am Tag zuvor zu uns heraufgewandert waren, spielten eine ganze Reihe hübscher Weisen auf Viola und Laute. Meine Mutter ließ sich jedoch nicht überreden, ihren üblichen

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