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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Und noch etwas wurde mir klar: dass mein Vater tatsächlich äußerst beunruhigt war. Was konnte das heißen: »Lass die Kinder nicht einen Augenblick allein«? Was konnte das bedeuten?
    Die Kapelle war durchaus bequem. Wenn wir auch an religiösen Festtagen alle standen, so hatte mein Vater doch schon vor längerer Zeit ein paar hübsche, samtgepols-terte Betstühle aus Holz angeschafft. Bankreihen waren damals noch nicht üblich.
    Einen Teil der Nacht nutzte mein Vater, um mir das Ge-wölbe unter der Kirche zu zeigen, das man mit Hilfe eines ringförmigen Griffes öffnen konnte, der in eine verborgene Falltür eingelassen war; der Ring ruhte in einer flachen Steinfassung und sah aus wie eines der vielen marmornen Ornamente in den Bodenplatten.
    Ich wusste von diesen Grabkammern, hatte als Kind sogar schon Prügel empfangen, weil ich mich heimlich hin-eingeschlichen hatte, und damals hatte mein Vater zu mir gesagt, dass ich ihn sehr enttäuscht hätte, weil ich kein Familiengeheimnis hüten könne. Dieser Vorwurf war viel schmerzhafter gewesen als die Tracht Prügel. Und ich hatte ihn danach nie wieder darum gebeten, ihn begleiten zu dürfen, obwohl ich wusste, dass er im Laufe der Jahre ab und zu in den unterirdischen Grüften gewesen war.
    Ich malte mir aus, dass dort Reichtümer liegen würden und geheimnisvolle Dinge aus heidnischer Zeit.
    Nun sah ich, dass es einen höhlenartigen Raum dort unten gab, der tief und weit in das Erdreich gegraben und mit Steinen eingefasst war. Er war mit diversen Schätzen gefüllt, es gab alte Truhen und sogar Stapel alter Bücher.
    Und zwei verriegelte Durchgänge.
    »Die führen zu den Grabstätten, die brauchst du nicht zu betreten«, sagte mein Vater, »aber es ist wichtig, dass du von diesem Ort weißt und ihn nicht vergisst.«
    Zurück in der Kapelle, richtete er die Falltür wieder, drückte den Ring nieder und legte die Marmorplatte wieder an ihren Platz, so dass nichts mehr davon zu erkennen war.
    Fra' Diamonte tat, als hätte er nichts gesehen. Meine Mutter war eingeschlafen und die Kinder ebenfalls. Noch vor Tagesanbruch waren alle in der Kapelle in den Schlaf gesunken.

    Bei Sonnenaufgang, als die Hähne in den Dorfgemein-schaften innerhalb der Burgmauern lauthals krähten, trat mein Vater in den Hof hinaus, reckte sich und schaute zum Himmel; dann zuckte er die Achseln.
    Zwei meiner Onkel eilten ihm entgegen und verlangten zu wissen, welcher Signore von welchem Ort auch immer es wagte, uns mit einer Belagerung zu drohen, und wann wir den Kampf aufnähmen.
    »Nein, nein, nein, ihr habt das ganz falsch verstanden«, erklärte mein Vater, »wir ziehen nicht in den Krieg. Geht zurück ins Bett.«
    Aber er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als ein durchdringender Schrei uns alle auffahren ließ. Durch die aufspringenden Torflügel zum Hof rannte eines der Dorfmädchen - eines, das wir sehr schätzten - und kreischte die fürchterlichen Worte: »Es ist fort! Das Baby ist nicht mehr da, sie haben den kleinen Jungen geholt.«
    Den Rest des Tages verbrachten wir mit der unermüdlichen Suche nach dem vermissten Kind, doch es war nirgends zu finden. Und bald stellte sich heraus, dass noch ein weiteres Kind spurlos verschwunden war, ein geistesschwacher Junge, den alle recht gern hatten, da er völlig harmlos war, wenn auch so wirr im Kopf, dass er kaum auf den eigenen Füßen stehen konnte. Und alle waren beschämt, weil niemand sagen konnte, wie lange dieser Schwachsinnige schon fehlte.
    Bei Einbruch der Dämmerung hatte ich langsam das Ge-fühl, ich müsste wahnsinnig werden, wenn ich nicht bald mit meinem Vater allein sprechen konnte, wenn es mir nicht endlich gelang, in das verschlossene Zimmer vor-zudringen, wo er mit den Onkeln und dem Priester saß und diskutierte und herumstritt. Am Ende hämmerte ich so heftig gegen die Tür und trat sogar dagegen, dass sie mich einließen. Das Treffen war so gut wie beendet, und mein Vater zog mich zu sich auf den Sitz und sagte mit wildem Blick:
    »Siehst du, was sie getan haben? Sie haben sich den Tribut genommen, den sie von mir verlangt haben. Sie haben sich einfach genommen, was ich ihnen verweigert habe. Haben ihn sich genommen!«
    »Was für einen Tribut denn? Meinst du die Kinder?«
    Seine Augen glühten wütend. Er rieb sich das unrasierte Kinn und ließ die Faust auf den Tisch niederkrachen; dann stieß er seine Schreibutensilien zur Seite.
    »Für wen halten die sich denn, dass sie nachts zu mir kommen und verlangen, dass

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