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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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anderes wild wucherndes, dornenbewehrtes Gestrüpp belagern die Kapelle drunten, wo die Gemälde immer noch sichtbar sind, ohne dass je ein Auge darauf fällt; und die geheiligten Überreste des geweihten Altars schlummern unter dicken Schichten Staub. Ah, aber diese Dornen schützen, was von meiner Heimstatt übrig blieb. Ich habe sie wachsen lassen. Ich habe zugelassen, dass die Waldwege verschwanden oder habe sie sogar selbst zerstört. Ich muss etwas von der Vergangenheit ganz für mich haben! Ich brauche das!
    Aber ganz zweifellos muss ich mir zum Vorwurf machen, dass ich weiter und weiter erzähle. Dieses Kapitel sollte längst beendet sein. Man kann es jedoch ein wenig mit den kleinen Theaterstücken vergleichen, die wir im Hause meines Onkels aufzuführen pflegten oder die ich mir ansah, wenn sie in Florenz vor dem Dom aufgeführt wurden: Zuerst braucht man die gemalte Kulisse, passende Requisiten, Drähte, an denen sich die Schauspielpuppen in die Luft erheben können; Kostüme müssen zugeschnit-ten und genäht werden, ehe man die Darsteller auf die Bühnenbretter schicken und ich die Geschichte erzählen kann, wie ich zum Vampir wurde.
    Ich kann nicht anders. Lassen Sie mich meine Abhand-lung über das glorreiche 15. Jahrhundert mit den Worten des berühmten Alchimisten Ficino abschließen: Es war das »Goldene Zeitalter«.
    Und nun wende ich mich dem tragischen Augenblick zu.

    3

    IN DEM DAS GRAUEN ÜBER UNS KOMMT

    Der Anfang vom Ende nahte im nächsten Frühjahr. Ich hatte meinen sechzehnten Geburtstag hinter mir gelassen, der in jenem Jahr auf den Dienstag vor Beginn der Fastenzeit gefallen war, den Tag, an dem wir mit allen Dörflern den Karneval feierten. Es war recht früh im Jahr gewesen, deshalb war es noch ziemlich kühl, trotzdem feierten wir alle fröhlich.
    In jener Nacht vor Aschermittwoch hatte ich dann diesen schrecklichen Traum, in dem ich mich selbst sah, die abgetrennten Köpfe meiner Geschwister im Arm. Ich erwachte von Schweiß bedeckt, so sehr hatte mich der Traum entsetzt. Ich hielt ihn in meinem Traumbuch fest.
    Und dann vergaß ich ihn tatsächlich. Eigentlich war das bei den meisten Träumen der Fall, nur dieses Mal war es wirklich der abscheulichste Albtraum gewesen, den ich je gehabt hatte. Aber wenn ich die bösen Träume, die ich hin und wieder hatte, meinen Eltern oder sonst jeman-dem gegenüber erwähnte, wurde immer gesagt: »Vittorio, du bist selbst schuld daran, bei all den Büchern, die du liest. Du forderst es doch geradezu heraus.«
    Ich wiederhole, der Traum war vergessen.
    Zu Ostern war das ganze Land ringsum ein einziges Blü-
    tenmeer, und die ersten Anzeichen nahenden Schreckens - die ich nicht als solche erkannte - waren die Dörfer an den unteren Hängen unseres Berges, die plötzlich von ihren Bewohnern verlassen worden waren.
    Mein Vater und ich ritten in Begleitung von zwei Jägern, einem Wildhüter und einem Mann der Garde hinunter, denn wir wollten mit eigenen Augen sehen, dass die Bauern aus der Gegend verschwunden waren - wie sich herausstellte, schon vor geraumer Zeit, und das Vieh hatten sie mitgenommen.
    Der Anblick dieser menschenleeren Flecken, so klein und unbedeutend sie auch gewesen waren, war gespenstig.
    Es war dunkel, doch angenehm warm, als wir bergauf-wärts zurückritten. Dennoch waren alle am Weg liegenden Dörfer fest verrammelt, so dass kaum ein Lichtstrahl durch die Ritzen der Fensterläden fiel und nur aus wenigen Schornsteinen ein Faden rötlichen Qualms aufstieg.
    Natürlich schwadronierte der alte Schreiber meines Vaters lauthals darüber, dass die Lehnsleute gesucht, bestraft und wieder an die Feldarbeit geschickt werden müssten.
    Gutmütig wie immer und völlig ruhig saß mein Vater, auf die Ellbogen gestützt, im Kerzenschein an seinem Tisch und erklärte, dass sie alle freie Männer gewesen waren; sie waren nicht an ihn gebunden, wenn sie nicht mehr hier in den Bergen leben wollten. So war die moderne Welt eben, nur hätte er immer gern gewusst, was auf unserem eigenen Land so vor sich ging.
    Als hätte er mich vorher nicht bemerkt, fiel ihm mit einem Mal auf, dass ich anwesend war und ihn beobachtete, und mit einem Abwinken tat er die ganze Sache ab und beendete die Unterredung.
    Ich dachte mir nichts dabei.
    Doch in den folgenden Tagen kamen einige Dörfler von den unteren Hängen zu uns herauf, um innerhalb unserer Mauern zu leben. Im Zimmer meines Vaters fanden Kon-ferenzen statt. Hinter den verschlossenen Türen hörte ich

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