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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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während ich, stumm vor mich hin betend, wieder hinauf in meine Kammer ging, wo ich sie absetzte.
    Dann reckte ich mich zu dem Fenster hoch und versuchte hinauszusehen, so gut es eben ging. Nichts war da unten, nichts als ein unmöglich steiler Abhang, eine abfallende Mauer, die ein Mädchen aus Fleisch und Blut niemals hätte erklimmen können, und hoch oben der stumme, gleichgültige Himmel, an dem die paar Sterne sich hinter Schäfchenwolken versteckten, als wollten sie weder mein Flehen noch meine missliche Lage wahrnehmen.
    Es schien absolut sicher, dass ich sterben würde. Ich würde diesen Dämonen zum Opfer fallen. Ursula hatte Recht. Wie sollte ich nur die Vergeltung herbeiführen, die diese Dämonen verdient hatten? Wie zur Hölle sollte ich das bewerkstelligen? Und doch glaubte ich ganz fest an mein Vorhaben. Ich glaubte an meine Rache so fest, wie ich an sie, an diese Hexe glaubte, die ich mit meinen eigenen Fingern berührt hatte, die es wagte, in meiner Seele einen solch rasenden Konflikt zu entfachen, die mit ihren Gefährten der Finsternis gekommen war, um meine Familie niederzumetzeln.
    Ich konnte die Bilder der Mordnacht nicht bezwingen, sah immer noch, wie sie, Ursula, bestürzt in der Tür der Kapelle gestanden hatte. Ihr Aroma haftete nach wie vor auf meinen Lippen, ich wurde es nicht los. Allein der Gedanke an ihre Brüste ließ mich schwach werden, als nährte sie mit ihnen mein Verlangen.
    Lass das vergehen, betete ich. Du kannst nicht davonlau-fen, sagte ich mir. Du kannst nicht nach Florenz gehen, du kannst nicht auf ewig nur mit einer einzigen Erinnerung leben, der Erinnerung an das Gemetzel, das du mit angesehen hast; das ist unmöglich, undenkbar. Das geht nicht. Als mir klar wurde, dass ich ohne Ursulas Hilfe jetzt nicht mehr leben würde, weinte ich.
    Sie, mit dem aschblonden Haar, die ich mit jedem Atemzug verfluchte, sie war es gewesen, die ihren vermumm-ten Genossen davon abgehalten hatte, mich zu töten.
    Sonst wäre es der absolute Sieg gewesen!
    Ich wurde ganz ruhig. Nun, wenn ich sowieso sterben musste, dann hatte ich eigentlich gar keine Wahl. Ich würde sie zuvor noch erwischen! Irgendwie würde es mir gelingen.
    Sobald die Sonne am Himmel stand, war auch ich auf den Beinen und spazierte in der Stadt umher. Meine Satteltaschen hatte ich so lässig über die Schulter geworfen, als trüge ich nicht ein Vermögen mit mir herum. Ich hatte schon bald einen guten Überblick über einen ziemlich großen Teil Santa Maddalanas, mit seinen baumlosen, engen, gepflasterten Gassen, die wahrscheinlich schon vor Jahrhunderten gebaut worden waren; vielleicht konnte man einige der Gebäude, die aus unregelmäßig gefügten Steinblöcken erbaut waren, sogar auf die Römer zurückführen. Es war eine wunderbar friedliche, reiche Stadt.
    In den Schmieden wurde schon gearbeitet, und so war es auch bei den Schreinern und Sattelmachern; es gab mehrere Schuhmacher, die sowohl elegantes Schuhwerk als auch Arbeitsstiefel feilboten, und eine größere Anzahl Juweliere sowie Handwerker, die die unterschiedlichsten Edelmetalle bearbeiteten, dazu die allgegenwärtigen Waffenschmiede und andere, die Schlüssel und Ähnliches herstellten. Auch Leder- und Pelzhändler waren da.
    Ich kam an so vielen ausgefallenen Läden vorbei, dass ich nicht mehr mitzählte. Man konnte die modischsten Stoffe kaufen, direkt aus Florenz, nahm ich an, Spitzen aus Nord und Süd und exotische Gewürze, die wohl aus dem Morgenland stammten. Die Schlachter boten Unmengen an frischem Fleisch feil, und es gab eine ganze Anzahl Weinhändler; selbst einige geschäftige Notare und Briefeschreiber und ähnliche Berufsstände sah ich auf meinem Weg und auch mehrere Ärzte beziehungsweise Apotheker.
    Wagen rollten nun durch die Stadttore, und hier und da herrschte in den Straßen sogar schon ein wenig Gedrän-ge, wenn auch die Sonne noch nicht hoch genug stand, um die eng gedeckten Schindeldächer zum Glühen zu bringen und das nackte Pflaster zu erwärmen, über das ich hügelaufwärts trottete.
    Die Kirchen läuteten zur Messe, und eine große Schar Schulkinder hastete an mir vorbei, alle recht sauber und ordentlich gekleidet; weitere Kinder marschierten, säu-berlich in zwei Reihen aufgestellt und von Mönchen angeführt, in die Kirchen, die beide aus alter Zeit stammten; ihre Portale waren schmucklos, abgesehen von tief in Nischen gesetzten Standbildern - Heiligenstatuen, deren Züge kaum noch zu erkennen waren -, und die vielfach

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