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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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er, doch er war ganz offensichtlich bekümmert. »Das kann ich sehen, man merkt es an Eurer Stimme, und Ihr wirkt sehr klug und nachdenklich -« Er brach ab. »Nun, ich schätze, Ihr werdet schon bald wieder unterwegs sein, nicht wahr?«
    »Meint Ihr, das wäre gut?«, fragte ich. »Oder sollte ich bleiben, was meint Ihr?« Ich stellte mich sanft und freundlich.
    Er schenkte mir ein zaghaftes Lächeln und sagte: »Ich weiß nicht.« Dann schaute er wieder todernst, beinahe tragisch. »Gott sei mit Euch«, flüsterte er.
    Ich beugte mich zu ihm. Der Wirt, der dieses vertrauliche Benehmen bemerkte, wandte sich ab und beschäftigte sich anderweitig. Der Alte sprach mit seinem Becher.
    »Was ist los, Vater?«, flüsterte ich. »Geht es der Stadt zu gut? Geht es darum?«
    »Macht Euch auf den Weg, mein Sohn«, sagte er fast sehnsüchtig. »Ich wünschte, mir wäre es möglich. Aber ich bin durch meine Gelübde gebunden und durch die Tatsache, dass dies meine Heimatstadt ist. Mein Vater ist hier, und alle andern sind verschwunden, hinaus in die weite Welt.« Mit einem Mal wurde er hart. »Oder es scheint wenigstens so«, sagte er, und dann: »Wenn ich an Eurer Stelle wäre, würde ich nicht bleiben.«
    Ich nickte.
    »Ihr habt etwas Fremdartiges an Euch, mein Sohn«, sagte er in dem gleichen Flüsterton. Unsere Köpfe steckten dicht beieinander. »Ihr fallt zu sehr auf. Ihr seid hübsch und in Samt gehüllt, und Euer Alter; wisst Ihr, Ihr seid kein Kind mehr.«
    »Ja, ich verstehe, es gibt kaum einen jungen Mann in der Stadt, zumindest keinen, der irgendetwas in Frage stellt.
    Nur die Alten und die Selbstzufriedenen bleiben und die, die alles hinnehmen und den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.«

    Er reagierte nicht auf diese übers Ziel hinausschießende rhetorische Leistung, und mir tat es Leid, dass ich das gesagt hatte. Mein Zorn und mein Schmerz hatten sich wohl durch diesen Lapsus Luft verschafft. Widerlich! Ich ärgerte mich über mich selbst.
    Er biss sich auf die Lippe und schien ängstlich besorgt um mich oder um sich selbst oder um uns beide.
    »Warum seid Ihr hergekommen?«, fragte er ernsthaft, fast fürsorglich. »Welchen Weg habt Ihr genommen? Es wird erzählt, dass Ihr erst in der Nacht ankamt. Verlassen solltet Ihr die Stadt nicht bei Nacht.« Jetzt hatte er seine Stimme so weit gesenkt, dass ich ihn kaum verstehen konnte.
    »Macht Euch um mich keine Sorgen, Vater«, sagte ich.
    »Betet für mich, sonst nichts.«
    Ich sah in seiner Miene die gleiche ehrliche Furcht, die ich auch zuvor bei dem jungen Dominikaner gesehen hatte, doch sie wirkte trotz seines Alters und trotz seiner Falten und seiner vom Wein feuchten Lippen viel unschuldiger. Es war, als erzeugten die Dinge, die er nicht fassen konnte, eine tiefe Erschöpfung in ihm.
    Ich machte einen Schritt über die Sitzbank und war schon im Begriff zu gehen, als er meine Hand fasste. Ich neigte mich zu seinen Lippen.
    »Mein Junge«, sagte er, »da gibt es etwas ... etwas ...«
    »Ich weiß, Vater«, antwortete ich und tätschelte seine Hand.
    »Nein, Ihr wisst es nicht. Hört mir zu. Wenn Ihr geht, nehmt die Hauptstraße nach Süden, selbst wenn sie für Euch nicht der direkte Weg ist. Wendet Euch nicht nach Norden; nehmt nicht die schmale nördliche Straße.«
    »Warum nicht?«, wollte ich wissen.
    Von Zweifeln ergriffen, stumm und völlig zerknirscht ließ er mich los.

    »Warum nicht?«, flüsterte ich ihm ins Ohr.
    Er sah mir nicht in die Augen. »Räuber«, sagte er. »Sie kontrollieren die Straße, sie verlangen Straßenzoll; wenn Ihr weiterziehen wollt, müsst Ihr zahlen. Geht nach Sü-
    den!« Er wandte sich abrupt ab und sprach in leiser, sanft scheltender Manier zu seinem Vater, als wäre ich schon nicht mehr da.
    Ich ging.
    Zutiefst verblüfft trat ich in die enge Gasse hinaus. »Räuberische Zolleintreiber?«
    Inzwischen hatten bis auf ein paar Ausnahmen alle Lä-
    den geschlossen, wie es hier offensichtlich nach dem Mittagsmahl Brauch war.
    Das Schwert an meiner Hüfte schien eine Tonne zu wiegen, und ich fühlte mich nach dem Wein fiebrig heiß, und von all dem, was die Leute mir enthüllt hatten, war mir ganz wirr im Kopf.
    So, dachte ich, und mein Gesicht brannte vor Aufregung, da haben wir also eine Stadt, in der es keine jungen Männer gibt, keine Krüppel, keine Geistesschwachen, keine Kranken und keine ungewollten Kinder! Und auf der Straße, die nach Norden führt, gibt es diese ge-fährlichen Räuber.
    Ich ging hügelabwärts,

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