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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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knapp von einem Mieder aus rot und golden geblümtem Samt bedeckt.
    An einem Schreibtisch saß der ältere Mann auf einem Stuhl mit gekreuzten Beinen. Sein Alter entsprach der Körperhaltung, die mir zuvor an ihm aufgefallen war, als sich seine Silhouette gegen die beleuchtete Burg abhob.
    Er war genauso blass wie die anderen, hatte den gleichen todesbleichen Teint, der schön, aber auch schrecklich und monströs wirkte.
    Orientalische Lampions hingen an Ketten von der Decke herab und verbreiteten mit ihren tief im Innern glitzernden Flammen ein Licht, das meinen geblendeten Augen Schmerzen bereitete; gleichzeitig verströmten sie einen Duft nach Rosen und Sommerwiesen, etwas, bei dem man nicht an Glut und Verbranntes dachte.
    Der Kopf des Alten war kahl, ein Anblick, der so hässlich war wie der einer ausgegrabenen Iris-Zwiebel, die man umgedreht und von ihren Wurzeln befreit hatte. Und in diesen Schädel eingepflanzt waren zwei glimmende graue Augen und ein großer, schmallippiger Mund, der ernst wirkte und von Geduld und Unvoreingenommenheit zeugte.
    »Ah, so«, sagte er mit leiser Stimme zu mir, wobei er ei-ne Augenbraue hob, die nur durch den scharfen Bogen zu erahnen war, den die Runzeln seines vollkommen weißen Fleisches formten. Zwei dicke, zum Kinn verlaufende Furchen bildeten seine Wangen. »Dir ist klar, dass du einen von uns getötet hast, nicht wahr?«
    »Das will ich hoffen«, antwortete ich. Ich versuchte, auf die Füße zu kommen, verlor aber beinahe das Gleichgewicht. Ursula streckte die Hand nach mir aus, trat jedoch schnell zurück, als hätte sie sich bei einer Verletzung der Etikette ertappt.

    Ich stellte mich aufrecht hin, wobei ich erst sie mit wü-
    tenden Blicken bedachte und dann den Alten, der mich mit ungebrochener Ruhe betrachtete.
    »Willst du sehen, was du angerichtet hast?«, fragte er.
    »Warum sollte ich?«, erwiderte ich. Aber ich sah es schon. Aufgebahrt zu meiner Linken lag der tote blonde Räuber, der mich mit Haut und Haaren in seinen großen Sack gesteckt hatte. Ah, die Schuld war voll und ganz beglichen. Da lag er, bewegungslos, scheußlich ver-schrumpelt, als wären die Glieder in sich zusammenge-fallen, und seinen blutleeren weißen Kopf mit den offenen Lidern, die seine starren dunklen Augen sehen ließen, hatte man vor seinen zerhauenen Hals gelegt.
    Das war mir ein Genuss! Ich starrte auf die skelettartige weiße Hand der Kreatur, die über den Rand der Bahre hing und aussah wie ein am Strand unter gnadenloser Sonne geschrumpftes Meeresgetier.
    »Oh, das ist großartig«, sagte ich. »Der Mann, der wagte, mich zu entführen und mich gewaltsam hierher zu bringen, ist tot, so tot, wie es nur geht. Habt Dank für diesen Anblick.« Ich sah den Alten an. »Mehr verlangt die Ehre nicht. Von Vernunft gar nicht zu reden, oder? Und wen habt ihr noch alles aus der Stadt mitgenommen? Den schwachsinnigen alten Mann, der sein Hemd zerriss?
    Das Kind, das bei der Geburt zu klein war? Die Schwachen, die Gebrechlichen, die Kranken, wen immer die Stadtleute euch geben wollten? Und was gebt ihr ihnen im Gegenzug dafür?«
    »Oh, schweig still, du junger Tor«, sagte der ernsthafte Alte. »Du bist mutig über Ehre und Vernunft hinaus, das ist nur zu klar.«
    »Nein, das stimmt nicht. Der Frevel, den ihr mir angetan habt, verlangt, dass ich bis zum letzten Atemzug gegen euch kämpfe, gegen euch alle.« Dabei wirbelte ich herum und heftete meinen Blick auf die offenen Türflügel. Allein das Hämmern der Musik bereitete mir Übelkeit und drohte, mir Schwindel zu verursachen nach all den Schlägen und Stürzen die ich durchgestanden hatte. »Was für ein Lärm von dort unten! Was seid ihr hier? Ein verfluchter Hofstaat?«
    Alle drei Männer brachen in heftiges Gelächter aus.
    »Na, da hast du fast Recht«, sagte einer der bärtigen Soldaten mit dunkel brummendem Bass. »Du bist hier am Hofe vom Blutroten Gral, denn eben so nennen wir uns, nur würden wir es gerne hören, dass man die ge-bührende lateinische oder französische Bezeichnung wählt.« »Am Hofe vom Blutroten Gral!«, keuchte ich.
    »Schmarotzer, Parasiten, Blutsauger, das seid ihr alle!
    Woraus besteht dieser blutrote Gral? Aus Blut?«
    Ich wollte mir die nadelscharfen Stiche von Ursulas Zähnen ins Gedächtnis rufen, ohne an den Zauber zu denken, der mich immer zugleich damit übermannt hatte, doch auch jetzt spürte ich ihn wieder, er drohte mich zu verschlingen, dieser Zauber, diese schwebende, duftende Erinnerung an Wiesen

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