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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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menschlich, und mit einem Mal, als wäre es so beabsichtigt, stieg mir der Geruch meines Körpers in die Nase, Geruch nach Schweiß und Straßenstaub, der an mir haftete und sich mit dem Aroma mischte, das schlicht von Menschlichem kündete.
    »Ja, richtig; du bist schon ein Leckerbissen für uns«, sagte der Burgherr von seinem Platz an der Tafel aus. »Das bist du wirklich, und der Saal wird von deinen Ausdünstungen überschwemmt. Aber es ist für uns doch noch zu früh zum Schmausen. Wir speisen, wenn die Glocke zwölf schlägt, so ist es unser unumstößlicher Brauch.«
    Seine Stimme war schön, volltönend klar und zauberhaft, mit dem Hauch eines französischen Akzents, der an sich schon so verführerisch sein kann. Und mit französischer Beherrschtheit und Würde drückte er sich aus. Er lächelte mich an, und sein Lächeln war freundlich, wie Ursulas Lächeln, aber nicht mitleiderfüllt und bestimmt nicht grausam oder sarkastisch.
    Ich hatte kein Auge für die Gesichter links und rechts von ihm; spürte nur, dass es viele waren, sowohl Männer als auch Frauen. Die Frauen trugen den imposanten Kopfputz, wie er in alten Zeiten im Frankenland Mode gewesen war, und aus dem Augenwinkel glaubte ich zu sehen, dass sich ein Mann sogar als Hofnarr herausgeputzt hatte.
    »Ursula«, sagte der Burgherr, »eine solche Angelegenheit erfordert gründliche Überlegung.«
    »Wirklich?«, rief ich laut. »Ihr habt vor, mich zueinem von Eurem Hof zu machen? Dazu bedarf es keiner Überlegung.«
    »Ach, nun komm, mein Junge«, sagte der Fürst mit seiner leisen, beruhigenden Stimme. »Wir unterliegen weder dem Tod noch Alter oder Krankheiten. Du aber windest dich an der Spitze des Hakens, du bist ein aus der See gefischtes Beutetier, schon dem Untergang geweiht, und dir ist noch nicht einmal klar, dass du nicht mehr in dem Leben spendenden Element schwimmst.«
    »Mein Herr, ich wünsche nicht Eurem Hofe anzugehö-
    ren«, sagte ich. »Spart Euch Eure Freundlichkeit und Euren Rat.« Ich blickte um mich. »Und redet mir nicht von Eurem Festmahl.«
    Diese Wesen hatten eine unerhört starre Haltung ange-nommen, wie gefroren betrachteten sie mich, was an sich schon gänzlich unnatürlich und bedrohlich wirkte. Eine Welle des Ekels überrollte mich. Oder war es Panik, Panik, die ich einfach nicht hochkommen lassen wollte, gleichgültig, wie vollständig und hoffnungslos ich von diesen hier eingekreist war und wie allein ich stand?
    Die Gestalten an der Tafel hätten genauso gut aus Porzellan sein können, so unbeweglich waren sie. Mir schien sogar, dass ebendiese Haltung Teil ihrer Aufmerksamkeit war.
    »Ach, hätte ich nur ein Kruzifix«, seufzte ich leise, ohne über meine Worte nachzudenken.
    »Das wäre ohne Bedeutung für uns«, sagte der Burgherr sehr sachlich.
    »Ach, das weiß ich nur zu gut; Eure Dame dort kam direkt in unsere Burgkapelle und nahm meinen Bruder und meine Schwester gefangen! Nein, ein Kreuz bedeutet Euch nichts. Aber für mich wäre es jetzt wichtig. Sagt, umringen mich Engel, um mich zu behüten? Seid Ihr selbst immer sichtbar, oder verschmelzt Ihr dann und wann mit der Nacht und verschwindet einfach? Und wenn Euch das möglich ist, könnt Ihr dann auch die Engel sehen, die mich schützen?«
    Der Fürst lächelte.
    Der Alte, der meinen Kragen losgelassen hatte, wofür ich ihm dankbar war, lachte leise in sich hinein. Aber kein anderer ließ seiner Heiterkeit freien Lauf.
    Ich sah Ursula an. Wie liebeglühend und verzweifelt sie wirkte, wie kühn und standhaft, während sie den Blick zwischen mir und diesem Edlen, den sie Florian genannt hatte, hin und her gleiten ließ. Und doch war sie genauso wenig menschlich wie die anderen hier; sie war das Trugbild einer jungen Frau, todbringend, doch mit unbeschreiblichen Gaben, unaussprechlicher Anmut ausgestattet, und gehörte längst nicht mehr den Lebenden an, wie alle anderen auch. Ein hübscher Gral war das, dieser Blutrote Gral!
    »Herr, höre, was er wirklich meint, gleichgültig, was er sagt«, bat Ursula. »Es ist so lange her, dass hier in diesen Mauern eine frische Stimme laut wurde, eine, die bei uns bleiben, eine von uns sein könnte.«
    »Ja, und beinahe glaubt er an seine Engel, und du hältst ihn für erstaunlich klug«, sagte der Fürst verständnisvoll.
    »Vittorio, junger Mann, lass dir versichern, dass ich keine Schutzengel in deinem Umkreis wahrnehmen kann. Und wir selbst sind ständig sichtbar, wie du recht gut weißt, denn du hast uns in Hochform

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