Viviane Élisabeth Fauville
verbracht hat, lässt der Arzt sie eintreten. Er fordert sie auf, in einem Sessel mit verchromtem Rohrgestell Platz zu nehmen, und setzt sich auf einen zweiten Sessel, der in einigem Abstand und zu der natürlichen Achse ihrer Blicke leicht verschoben ist, ihr gegenüber. Er sagt nichts. Die Patientin wartet auf Fragen, die nicht kommen, erwägt, die Episode zu erzählen, die sie hierher geführt hat, lässt es dann aber lieber. Die Einrichtung. Sie studiert die Einrichtung, um zu entscheiden, ob sie sich diesem Mann anvertrauen kann, sucht nach Beweisen für seine Rechtschaffenheit. Ein vertrauter Gegenstand, ein Buch, das sie etwa selbst gelesen hätte, irgendein kleines Ding, woran sie sich festhalten könnte.
Neben ihr steht ein Tisch, der überladen ist mit Fachzeitschriften und Broschüren, die zur Vorsicht beim Konsum von Alkohol und Drogen ermahnen. Dem Tisch gegenüber erfüllt wohl eine Récamière die Funktion der Couch. Der Arzt hat neben diesem Möbelstück Platz genommen, seine schweren Lider sind auf das Rollo über dem Schreibtisch gerichtet. Ein sanftes Tageslicht sickert von der StraÃe herein. Es ist der Anfang des Frühlings, jene Jahreszeit, die sich nur schwer vom Herbst unterscheiden lässt. Das Licht spielt in Zwischentönen, und man könnte ohne Kalender nicht sagen, ob es im Abnehmen oder im Zunehmen begriffen ist. Zwischen ihnen liegt ein Teppich ausgebreitet, dessen kompliziertes Muster in rot-orangefarbenen Tönen gehalten ist.
Sie nimmt eine zweite Inspektionsrunde vor. Mustert eingehend jeden Gegenstand auf dem über der Couch befestigten Wandregal, die Bücherreihe dahinter liefert ihr keinerlei Indiz, weil es deutsche Ausgaben sind und sie Englisch als erste Fremdsprache hatte, sie fühlt sich plötzlich genötigt, das klarzustellen, dann Spanisch als zweite Fremdsprache, das ist im Berufsleben nützlicher als das Deutsche, das nur den Philosophen und den Komponisten etwas nützt. Obwohl letztere diese Sprache nach Möglichkeit meiden und sich in die Musik flüchten, wenn das kein Beweis ist.
Der Beweis wovon, sagt der Arzt. Damit ist der erste Kreis dessen abgeschlossen, was sich unablässig drei Jahre lang wiederholen wird. Die Patientin greift sich irgendeinen Gegenstand der Einrichtung heraus und deutet Dinge in ihn hinein, die nicht darin zu finden sind, wobei sie die zarte Mechanik ihres Unbewussten enthüllt. Natürlich setzt das ein Bekenntnis zu jener kleinen Wiener Hexenkunst voraus, die der Arzt praktiziert. Er gibt es selbst zu, man muss daran glauben, sonst funktioniert es nicht besser als der Voodoo-Kult in einer Gemeinde der Pfingstbewegung, und in der ersten Zeit weià die Patientin nicht, ob sie daran glaubt, aber sie will sich gerne überzeugen lassen.
Sie will es gerne, weil sie auf dem Regal, vor den deutschen Büchern, ein Ding bemerkt hat, das sie an ein Objekt aus der Wohnung ihrer Mutter erinnert. Es ist ein kleiner Kupfergegenstand unbekannter Herkunft. Mit einem langen Schaft und einem Schnabel versehen, scheint es eine Flüssigkeit â Ãl, Tee, Kaffee â zu enthalten. Allenfalls könnte es noch eine Urne für die Asche eines kleinen Tieres darstellen. Einer Katze, zum Beispiel. Die Patientin hat eine Mutter, die eine Katze hat. Aber sie weià beim besten Willen nicht, was an dieser Geschichte interessant sein soll, sagt sie und bricht zusammen.
Und jetzt weinen Sie. Sie schluchzen auf Ihrer Bank in der Grünanlage am Boulevard de La Chapelle, wo die Umgebung erstarrt. Die Kinder im Sandkasten unterbrechen die Bewegungen ihres Baggers, ihrer roten oder blauen Plastikgeräte, die in der Luft hängenbleiben, und die Gestalten, die unter den Rosskastanien palavern, unterbrechen ihre undurchsichtigen Transaktionen. Alle stürzen zu Ihnen hin, um Ihnen beizustehen, aber Sie lassen sie einfach stehen. Sie flüchten zu den Gleisen der Gare de lâEst hin, gehen an der Post vorbei, über die Eisenbahnbrücke. Auf dem Boulevard treffen Sie erneut auf die Basare und die Lebensmittelläden, die Gehsteige quellen über von Yamswurzeln, SüÃkartoffeln, Bananen, dann kommt ein Kebab-Stand und ein Café, die Filiale des Crédit lyonnais, und schon ist man an der Station Stalingrad.
Es ist zehn vor zwei, Viviane geht ihre Tochter abholen.
6
Da hat man dieses Kind auf dem Arm, von dem man sich fragt, wie es dort hingekommen ist. Die
Weitere Kostenlose Bücher