Voellig durchgeknallt
Wenigstens platze ich nicht mehr. Aber ich hab in Jubys Bett gepinkelt!
Sein ekliger Bieratem schlägt mir ins Gesicht, als er wieder losschnarcht. Jetzt oder nie! Auf geht’s!
|192| Vorsichtig wickle ich mich aus der Decke und bewege meine eingeschlafenen Arme und Beine, dabei bete ich, dass Juby nichts merkt. Dann setze ich mich auf und klettere über ihn drüber. Dabei sitze ich einmal fast auf ihm drauf, und wenn er jetzt aufwacht, dann ade, du schöne Welt. Aber dann berührt erst mein einer Fuß den Boden und dann der andere, ich tripple auf Zehenspitzen über den Teppich und schon bin ich zur Tür raus. Ich traue mich nicht, mich umzudrehen. Wenn er mir nachschaut, falle ich tot um. Ich schleiche die Treppe runter und muss aufpassen, dass ich nicht stolpere, denn ich zittere am ganzen Leib und kämpfe gegen die Panik an. Dabei würde ich am liebsten schreien. Ich laufe in die Küche und drücke die Klinke der Hintertür runter. Abgeschlossen! Aber dann sehe ich, dass der Schlüssel steckt. Ich schließe auf. Ich flitze den schmalen Weg ums Haus rum. Gleich ist es geschafft! Ich sprinte durch den Vorgarten und mache das Tor auf. Jetzt bin ich auf der Straße und könnte eigentlich verschnaufen und lässig weiterbummeln, als hätte ich nichts zu verbergen. Geht nicht. Ich renne los, so schnell, wie ich noch nie gerannt bin. Ich renne, bis ich aus der Siedlung raus bin. Ich will nicht mal nach Hause, ich renne einfach weiter, vorbei an irgendwelchen Leuten, die sich alle umdrehen, um zu sehen, wer mich verfolgt. Ich renne, bis ich am Friedhof bin. Ich schlängle mich zwischen Gräbern und Blumen durch und breche schließlich auf Selbys Grab zusammen.
|193| Sechzehn
Ich bin wieder zu Hause und in Sicherheit, aber ich hab immer noch Herzklopfen und mir dröhnt der Schädel. Ich hab ewig am Grab meines Bruders rumgehangen. Ich hatte tierisch Schiss, dass Juby mich gesehen hat und hinter mir her ist, außerdem war meine Hose nass und ich wollte sie erst ein bisschen trocknen lassen. Schließlich hab ich mir den Pullover umgebunden. Ich bin bloß froh, dass es Pisse ist und kein Blut. Zum Glück war Oma in ihre Seifenopern vertieft, als ich heimkam, und Mum war unterwegs, darum konnte ich rauf in mein Zimmer, ohne dass meine nasse Hose irgendwem aufgefallen ist.
Jetzt liege ich auf dem Bett und horche, ob Juby an die Haustür hämmert. Ich stelle mir sein Gesicht vor, puterrot vor Zorn.
Was hast du in meinem Bett getrieben, du kleiner Perverser?
Vielleicht wacht er ja auf und hält alles für einen abartigen Traum. Ich glaube, er hat immer noch geschlafen, als er mich angeschaut hat. Sonst wäre ich wohl jetzt nicht hier. Ich denke an das Marmeladenglas hinten im Küchenschrank der Jubys, in dem entweder mein Finger oder ein vergammelter Wurstzipfel rumschwimmt.
|194| Ich muss schon sagen, im Knast ist das Leben wesentlich übersichtlicher. Ich bin erst vierundzwanzig Stunden raus und schon ist alles dermaßen kompliziert.
Ich höre Schritte auf dem Weg und halte die Luft an. Dann atme ich auf. Es ist bloß meine Mutter. Ich erkenne sie am Schlurfen, sie hebt die Füße nicht richtig. Der Schlüssel dreht sich, dann fällt er klirrend in die Glasschale auf dem Dielentisch.
Ich kann ein freundliches Gesicht gebrauchen und gehe runter, um sie zu begrüßen. Als ich ihre roten Augen und ihr vom Weinen zerlaufenes Make-up sehe, kriege ich einen Schreck.
»Was ist denn los?«
Sie sieht mich mit verquollenen Augen an. »Nichts.« Schon wieder laufen ihr die Tränen. »Ich hab bloß was im Auge.«
»Ist es wegen Oma? Hat sie irgendwas gesagt?« Ich gehe ihr nach in die Küche. »Kümmer dich doch einfach nicht um sie.«
»Findest du mich dick?«
»Nicht so dick wie Oma selber. Weinst du deswegen?« Ich nehme sie am Arm und drücke sie auf einen Stuhl. »Lass sie doch reden. Jedenfalls bist du nicht dick, du bist nur gut beisammen, das ist was anderes.« Herrje. Jedes Mal, wenn Mum irgendwas isst, und sei es nur ein Apfel, macht Oma eine Bemerkung wie: »Na, noch ’n Happen Hüftgold?« Dabei ist Oma viel dicker als Mum und süchtig nach ihrem Junkfood. »Soll ich mal mit ihr reden?«
|195| »Ich wollte nur hören, was ein anderer Mann dazu sagt.« Mum sieht todunglücklich aus.
»Was meinst du mit ›ein anderer Mann‹?« Dann dämmert es mir. »Das war gar nicht Oma, stimmt’s? Es war Lenny.«
Mum wischt sich mit der Hand über die Nase und schnieft. »Er hat gesagt, ich erinner ihn an einen
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