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Vogel-Scheuche

Titel: Vogel-Scheuche Kostenlos Bücher Online Lesen
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    Die Scharte heilte. Der Wolkenstoff war gerade noch belebt genug, um auf das Heilelixier zu reagieren. Ihr verzweifelter Plan erwies sich als erfolgreich. Roxanne Umschrift die ganze Insel; vorsichtig beträufelte sie sämtliche Wunden mit dem Elixier. Dann begab sie sich ins Innere des Schlosses und behandelte auch dessen Wunden damit. Und auch diese heilten. Schließlich gelangte sie zum Nest, wo das Ei vor Kälte bereits zitterte, und gab den letzten Tropfen darauf. Sofort hörte das Zittern auf, das Ei war geheilt.
    Sie bestieg es – und spürte, wie sich das Schloß in Bewegung setzte. Es schwebte wieder! Es hob sich vom Boden, erst ganz gemächlich, dann immer schneller, als das Heilelixier bis in die letzten beschädigten Ritzen eindrang.
    Roxanne hatte es geschafft. Sie hatte das Ei gerettet. Das war alles, was zählte. Alles war wieder gut.
     
    »Keine Fragen mehr an die Zeugin«, verkündete Ida, als sich das Illus i onsbild auflöste. »Sie gehört dir.«
    Doch aus irgendeinem Grund mochte Grey Roxanne nicht weiter b e fragen.
    »Nun zu den Plädoyers«, verkündete Richter Fetthuf.
    Grey Murphy trat vor und wandte sich an die Geschworenen. »Es gibt nur eins, was ihr entscheiden müßt«, sagte er grimmig. »Hat Roxanne Roc die Erwachsenenverschwörung verletzt? Ihre Persönlichkeit tut nichts zur Sache; die Anklage räumt ein, daß sie ein prächtiger Vogel ist. Ihre Absichten tun auch nichts zur Sache; die Anklage räumt ein, daß ihr Verstoß unabsichtlich geschah. Nur eins aber zählt: Hat sie es getan oder nicht? Das vorgelegte Beweismaterial zeigt, daß sie es getan hat. Es bleibt euch keine andere Wahl, als sie schuldig im Sinne der Anklage zu spr e chen.« Er nahm wieder Platz.
    Ida trat zu den Geschworenen hinüber. »So einfach ist das nicht«, sagte sie. »Die Absicht spielt sehr wohl eine Rolle. Vielleicht mag sie den Ve r stoß nicht gänzlich entschuldigen, aber sie kann ihn doch relativieren. Ihr müßt abwägen, was Roxanne Roc alles getan hat. Angenommen, sie hätte sich anders verhalten – was wäre dann mit dem Ei geschehen? Wäre es ohne sie besser drangewesen? Das ist der Kontext, innerhalb dessen ihr euer Urteil über sie fällen müßt.«
    Sie hielt inne, ordnete ihre Argumente, und ihr Mond konzentrierte sich. »Stellt euch vor, ihr würdet in aller Unschuld an einer Gegend vo r beikommen, von der ihr nicht wüßtet, daß sie verboten ist, um euch plötzlich an den Boden gefesselt wiederzufinden, genau wie Roxanne es getan hat, damit gestraft, jahrhundertelang ein Ei auszubrüten. Meint ihr nicht, daß euch das eine Spur rebellisch werden ließe?«
    Nun kam die Macht der Zauberin zum Tragen. Ihr Talent war die I dee, und alles, woran sie glaubte, wurde auch Wirklichkeit, vorausgesetzt, die Idee stammte von niemandem, der um ihr Talent wußte. War es möglich, daß es Mitglieder unter den Geschworenen gab, die von ihrem Talent nichts ahnten? Metria bezweifelte es zwar, war sich aber nicht ganz sicher.
    »Angenommen, ihr würdet dennoch diese Buße in aller Ehrenhafti g keit absitzen, auch wenn es bedeuten würde, fast völlig isoliert von eurer eigenen Art sowie von allen anderen Wesen zu bleiben, bis auf ungewol l te Eindringlinge? So daß ihr immer nur Kontakt zu feindseligen G e schöpfen hättet, auch wenn ihr selbst von Natur aus eher freundlich gesinnt wäret?«
    Metria sah Jenny Elfe nicken, ebenso Graeboe Riese-Harpyie und Sherlock Schwarz. Idas Worte zeigten Wirkung.
    »Und weiterhin angenommen, ihr bekämt Gelegenheit zur Flucht, weil der Zauber, der euch gefesselt hielt, plötzlich verschwunden ist, nämlich in der Zeit Ohne Magie? Hättet ihr es getan?« Stanley Drache nickte, ebenso Mark Knochen.
    »Roxanne Roc hat es nicht getan. Sie ist ihrer Berufung treu geblieben, hat Schmerz, Entbehrung und Gefahr erlitten. Sie hat außerordentliche Anstrengungen unternommen, um das Ei zu erhalten, und hatte Erfolg, wo manch eine andere Kreatur gescheitert wäre.« Kim Mundanier nickte, gefolgt von Gayle Wasserspeier.
    »Nehmen wir ferner an, daß ihr dann plötzlich einen belanglosen, u n gewollten Fehler begangen hättet, indem ihr einfach frustriert eurem Zorn Luft machtet, als euch klar wurde, daß ihr nicht dazu in der Lage wart, einem zufälligen Eindringling die Situation zu erklären. Wäret ihr darauf gekommen, daß ein Küken, das schon mehr als fünf Jahrhunderte stumm in seinem Ei verweilt, ausgerechnet jetzt zuhört? Und daß es euch verstehen würde?«

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