Vogelfrei
Gesicht, doch die Frau drängte ihn leise, die Schale zu leeren. Nach dem zweiten Schluck kam er zu dem Schluss, dass alles, was dermaßen scheußlich schmeckte, unbedingt helfen musste, sonst würde niemand davon trinken. Also hielt er den Atem an und stürzte den Rest in einem Zug hinunter, dann gab er der Frau die Schale zurück und sah ihr nach, als sie damit zur Feuerstelle zurückging. Sie trug ein weißes Überkleid mit feinem blauem Karomuster und bewegte sich so anmutig und selbstsicher, wie er es bislang erst bei wenigen Frauen gesehen hatte.
Iain Mor war sein Interesse nicht entgangen. »Was hast du denn zu glotzen, Junge?«, grollte er.
Dylan senkte den Blick und sagte nichts darauf. Er hielt es für geraten, Vorsicht walten zu lassen. Wahrscheinlich gehörte die Frau Iain und wurde wegen ihrer Jugend und Schönheit von ihm eifersüchtig bewacht.
Malcolm wandte sich an Iain. »Er kann heute Nacht in meiner Kammer schlafen, während wir hier bei Alasdair wachen.« Da er Englisch gesprochen hatte, ging Dylan davon aus, dass diese Worte auch für seine Ohren bestimmt gewesen waren.
Iains Anwort bestand aus ärgerlichem gälischem Geknurre.
Malcolm fuhr - wiederum auf Englisch - fort: »Coll kann vor der Tür bleiben und auf ihn aufpassen.« Dabei deutete er auf den blonden Halbwüchsigen, der Dylan einen missmutigen Blick zuwarf.
Iain starrte zu Boden und überlegte eine Weile, dann sah er Malcolm an und nickte. »Aye, so sei es.«
Malcolm sagte etwas auf Gälisch zu den anderen Männern, dann forderte er Dylan auf, mit ihm zu kommen. Dylan rappelte sich hoch und folgte ihm durch den langen Raum zu einer schweren, eisenbeschlagenen Holztür und dann in einen Gang hinaus; zwei Hunde blieben ihnen dicht auf den Fersen. »Gibt es in dieser Gegend Leute, die dich erwarten?« Malcolm fragte dies so ruhig und gelassen, als sei ihm Dylans Antwort im Grunde genommen egal. Der Gang wurde nur von einigen langen Kerzen beleuchtet, die in unregelmäßigen Abständen in Wandhaltern steckten und bizarre Schatten an den Wänden entlangtanzen ließen. Das Dämmerlicht sowie das dunkle Gestein um ihn herum vermittelten Dylan den gespenstischen Eindruck, lebendig begraben zu sein. Der Gang kam ihm vor wie eine enge Höhle, aus der es kein Entkommen gab.
Flüchtig erwog er, einfach zu behaupten, dass bei Tagesanbruch ein Suchtrupp nach ihm ausgeschickt werden würde. Niedergeschlagen blickte er sich um. Allmählich wurde er sich seiner hoffnungslosen Lage bewusst. Jeglicher Gedanke an Flucht war sinnlos, wohin hätte er auch fliehen sollen? »Nein«, erwiderte er tonlos, »niemand erwartet mich. Ich wusste ja selbst nicht, dass ich hier landen würde.« Wo war eigentlich diese verflixte Fee geblieben?
Malcolm nahm eine Kerze aus ihrem Halter und führte ihn den Gang entlang zu einer steinernen Treppe, die sich spiralförmig in die Höhe schraubte. Die Pfoten der Hunde, die den beiden Männern immer noch folgten, klickten leise auf dem Gestein. Die über Dylans Kopf zusammenlaufenden Wände gaben ihm das beklemmende Gefühl, sich in einem engen Tunnel zu befinden. Die Treppe hatte zahlreiche Absätze; an jedem war links von den Stufen eine merkwürdig geformte Nische in den Stein gehauen, in die man eine Tür eingelassen hatte. Dylan spähte angestrengt ins Dunkel, konnte aber kein Ende der Treppe ausmachen.
Unbeirrt setzte Malcolm seinen Weg fort. »Lebt von deiner Familie noch jemand? Dein Vater ist doch sicherlich tot, nicht wahr?«
»Wie kommst du denn darauf?«
Malcolm sah ihn überrascht an. »Ich kann kaum glauben, dass ein Mann seine Familie aus freien Stücken im Stich lässt. Ich für meinen Teil würde das niemals über mich bringen. Auch nicht, wenn ich es müsste.«
»Mir blieb leider keine andere Wahl.«
Malcolm grinste. »Hat sich Ihre Majestät jetzt darauf verlegt, Leute nach Schottland zurückzuschicken?«
Dylan lachte. »Nein, ich ...« Er zermarterte sich das Hirn, doch ihm wollte keine glaubhafte Lüge einfallen. Also blieb nur die Wahrheit. »Ich hab an einem Nachmittag ... einfach das Bewusstsein verloren ... so, als hätte ich einen Schlag über den Kopf gekriegt, und als ich wieder zu mir kam, war ich in Schottland.«
»Ach so«, erwiderte Malcolm verständnisvoll, »du bist einer Presspatrouille in die Hände gefallen. Das erklärt einiges. Sei froh, dass du ihnen entkommen konntest. Glaubst du, sie suchen nach dir?«
Dylan hatte keine Ahnung, was eine Presspatrouille war, gedachte
Weitere Kostenlose Bücher