Vogelfrei
aber nicht, das Thema weiter zu verfolgen, und sagte nur: »Nein, niemand ist hinter mir her.« Eine Weile herrschte Schweigen, während sie weiter nach oben kletterten, dann fragte Dylan geradeheraus: »Warum lebe ich eigentlich noch?«
Malcolm erwiderte, ohne zu zögern: »Roderick Matheson, den wir seit fast vierzig Jahren nicht mehr gesehen haben, war der Bruder meiner Mutter und der Bruder des Vaters von Iain, Coll und James. Ich war noch ein Kind, als ich ihn zuletzt sah, aber du hast seine Augen. Wäre dem nicht so, so lägst du jetzt in Ketten im Gefangenenturm.
Aber ich glaube nicht, dass wir dich getötet hätten; auch nicht, wenn du ein Spion gewesen wärst.«
Seine Stimme klang unverändert gleichmütig, und Dylan erschauerte.
Auf dem fünften Treppenabsatz blieben sie stehen. Malcolm führte ihn in einen beinahe runden Raum, der von einem riesigen Kamin beherrscht wurde. Das Zimmer war so hoch, dass die schweren, mit grob geschnitzten Blumen verzierten Deckenbalken fast im Dunkel verschwanden. Dylan stellte überrascht fest, dass die hohen, geteilten Fenster mit Glasscheiben versehen waren; Glasfenster zeugten in diesem Jahrhundert und in diesem Land immer von einem gewissen Wohlstand. Aufmerksam blickte er sich im Raum um.
Neben einem der Fenster stand ein mächtiges Himmelbett, neben der Feuerstelle ein schwerer geschnitzter Stuhl, und am anderen Ende des Raumes gab es noch einen Schrank und einige kleine Regale. Am Fuß des Bettes stand ein niedriger Tisch mit kunstvoll gedrechselten Beinen. Jemand hatte einen zinnernen Wasserkrug nebst Waschschüssel darauf bereitgestellt. Eine Burg, Glasfenster, Zinngeschirr, geschnitzte Möbel ... reiche Leute waren das hier.
Malcolm wies auf das Bett. »Das werde ich heute Nacht nicht brauchen, also kannst du darin schlafen. Gracie wird gleich kommen und dir ...«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Eine kleine, grauhaarige Frau trat ein; sie hielt einige raue Tücher in der Hand. Ihr von Narben entstelltes Gesicht verriet, dass sie an den Pocken erkrankt gewesen sein musste. Sie verzog ihre dünnen Lippen zu einem Lächeln, dann legte sie die Tücher neben dem Wasserkrug auf den Tisch. Die ganze Zeit über warf sie Dylan neugierige Blicke zu. Dylan sah zu Malcolm hinüber und fragte sich, ob es in dieser Burg wirklich so wenig Betten gab, dass er in dem von Malcolm schlafen musste, oder ob man ihn hier untergebracht hatte, um ihn besser bewachen zu können. Sie befanden sich hoch oben in einem der Türme, und wahrscheinlich gab es nur einen Weg nach draußen. Vielleicht existierten noch Geheimgänge, aber wie sollte er die ausfindig machen? Dylan vermutete, dass Coll nicht sein einziger Wächter war. Iain hatte bestimmt noch andere Männer entlang der Treppe und an den Türen postiert.
Er entspannte sich ein wenig. Die Wachposten störten ihn nicht. Er wusste ohnehin nicht, wohin er fliehen sollte.
Malcolm deutete auf den Wasserkrug. »Du willst dir doch sicher das Blut abwaschen.«
Dylan betastete eine verschorfte Wunde an seinem Kinn, die zu jucken begonnen hatte, und ging zum Tisch hinüber, um Wasser in die Waschschüssel zu gießen. Die Schwellung an seinem Auge ging bereits zurück, schmerzte aber noch, wenn er sie berührte. Als er anfing, sich vorsichtig das Gesicht abzutupfen, platzte seine halb zugeheilte Lippe wieder auf, und er musste ein Tuch darauf drücken, um das Blut zu stillen. Doch schließlich hatte er sich Gesicht und Hände gesäubert, trocknete sich an einem weiteren Tuch ab und stellte fest, dass die Schmerzen allmählich nachließen.
Die Hunde starrten ihn mit ihren blanken Augen so neugierig an wie zwei zottige schwarzweiße Kinder, die darauf warteten, dass er sie zur Kenntnis nahm. Einer war fast ganz weiß, hatte nur hier und da kleine schwarze Flecken, der andere war schwarz mit weißem Bauch. Der weiße Hund streckte sich auf dem Holzfußboden aus, um zu schlafen, der kleinere schwarze beäugte Dylan, schnupperte vorsichtig und kam ein Stückchen näher.
Dylan hielt ihm die Hand hin und ließ ihn daran schnüffeln. Der Knoten in seinem Magen löste sich ein wenig, als das Tier sich daraufhin auf den Rücken rollte und ihn aufforderte, ihm den Bauch zu kraulen. Dylan konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er der Bitte nachkam. »Braver Hund. Du erkennst einen Matheson, wenn du einen siehst.«
Als er wieder aufblickte, waren sowohl Malcolm als auch Gracie verschwunden. Er ließ sich auf das Bett sinken,
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