Vogelfrei
Frauen hielten in ihren Tätigkeiten inne. Aufs Geratewohl fragte Dylan in die Runde: »Iain Matheson?«
Als Rotnacken vortrat, hätte Dylan fast entsetzt aufgestöhnt. Iain Mór hatte die Fee ihn genannt. Den großen Iain. Jetzt verstand er, warum.
»Ich habe deinen Vetter nicht umgebracht.«
Der Hinterwäldlertyp, den Dylan bei sich Hillbilly getauft hatte, mischte sich ein. »Aye, das wissen wir. Sarah hat ja alles mit angesehen.« Er nickte in Richtung der schluchzenden Frau neben dem Toten.
»Malcolm!«, warnte Iain Hillbilly drohend. Eine weitere auf Gälisch geführte Diskussion folgte, dann wandte Iain seine Aufmerksamkeit wieder Dylan zu. »Sag uns augenblicklich, wer du bist, sonst werden wir dich auf der Stelle töten.«
Dylan widerstand dem Drang, einen Schritt zurückzuweichen, und sah Iain fest in die Augen. »Mein Name ist Dylan Robert Matheson.«
»Das ist eine Lüge!« Iain ging erneut auf ihn los und versetzte Dylan, der aufgrund seiner Fesseln nicht schnell genug ausweichen konnte, einen kräftigen Hieb in die Magengegend.
Dylan krümmte sich. Ein paar Sekunden lang bekam er keine Luft, während ein weiß glühender Schmerz durch seinen Körper schoss. Als er sich so weit erholt hatte, dass er wieder atmen konnte, richtete er sich auf und blickte Iain furchtlos an. Tonlos sagte er: »Es ist die Wahrheit.«
»Du bist kein Matheson, und ich werde dir zeigen, was es heißt, mich zum Narren halten zu wollen.« Wieder schoss Iains Faust vor und hätte Dylan genau ins Gesicht getroffen, wenn dieser nicht zur Seite gesprungen wäre. Stattdessen versetzte ihm Iain einen weiteren Schlag in den Magen. Die Welt begann sich um ihn zu drehen, doch als er wieder zu Atem gekommen war, forderte er barsch: »Bindet mich los und gebt mir ein Messer, dann wollen wir einmal sehen, ob ich dir nicht dein großes Maul stopfen kann.« Trotz der Körpergröße des Mannes war Dylan überzeugt davon, Iain in einem fairen Kampf bezwingen zu können.
Doch Malcolm hatte Iain schon am Arm gepackt und sprach eindringlich auf ihn ein. Der große Mann blickte zwar nach wie vor finster, unterließ aber weitere Angriffe.
»Hört mich doch an.« Dylan sprach so deutlich, wie es ihm mit seinen zerschlagenen Lippen möglich war. »Fällt euch denn an meiner Sprechweise nichts auf? Ich bin kein Engländer.« Iain zögerte. Seine Hand stahl sich wieder zu dem Dolch, und Dylan fuhr rasch fort, wobei er seinen Südstaatenakzent noch übertrieb: »Ich bin kein Engländer nich', und das wisst ihr selbst ganz gut. Oder kennt ihr 'n Engländer, der so red't wie ich?«
Malcolm meinte nachdenklich: »Er hat Recht, Iain. Er ist kein Engländer und auch kein Franzose. Hör ihn dir doch an.«
Ermutigt sprach Dylan weiter: »Ich bin kein Engländer, sondern Amerikaner.« Hastig berichtigte er sich: »Ich meine, ich komme aus den Kolonien.« Trotz seiner Kopfschmerzen versuchte er fieberhaft, sich an alles zu erinnern, was er je über seine frühen amerikanischen Vorfahren gehört hatte. Wie lautete doch gleich der Name dieses Sträflings, von dem sein Großvater dauernd gesprochen hatte? Derjenige unter seinen Matheson-Ahnen, der als Erster einen Fuß in die Neue Welt gesetzt hatte? Das musste im späten 17. Jahrhundert gewesen sein: so um 1660 herum, also vor fünfzig Jahren, wenn man die Zeitrechnung dieser Fee zugrunde legte. »Mein Vater war ...« Er brach ab und atmete tief durch. Der Name? Wie war der Name? Ach ja, natürlich! »... Roderick Matheson.«
Gespanntes Schweigen breitete sich mit einem Mal im ganzen Raum aus. Er hatte offenbar das Richtige getroffen, nun musste er sein Gedächtnis anstrengen. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Roderick wurde als junger Mann nach Virginia deportiert. Und ich wurde ...« Achtung, jetzt musste er zu einer Lüge Zuflucht nehmen. Er war in Tennessee geboren, doch im Jahre 1713 war dieser Staat wohl noch weit gehend unbekannt gewesen. Aber um glaubwürdig zu klingen, durfte er nicht bedenkenlos das Blaue vom Himmel herunterflunkern. »Ich wurde in Virginia geboren, im Jahre ...« kurzes Kopfrechnen »... 1683.«
Iain wirkte nicht restlos überzeugt. »So alt siehst du gar nicht aus«, grollte er. »Und Ähnlichkeit mit den Mathesons hast du auch nicht viel.« Dylan nahm an, dass Iain auf seine dunkle Haut und sein schwarzes Haar anspielte. Diese Farben kamen zwar bei Schotten auch gelegentlich vor, passten aber nicht zu dieser Familie, deren Mitglieder zumeist hellhaarig - blond,
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