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Vogelfrei

Titel: Vogelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianne Lee
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Schmerzen hatte er verdrängt, die Wunden bluteten auch nicht mehr, doch nun begann seine Hand allmählich steif zu werden.
    »So tut doch endlich, was ich Euch sage«, forderte sie ihn ungeduldig auf, während sie Wasser aus einem kleinen Schlauch auf ein Taschentuch goss. Er gehorchte, und sie wickelte das nasse Tuch um seine Knöchel. »Es wird gleich wieder anfangen zu bluten, aber danach kann ich die Hand ordentlich verbinden, und die Wunden werden gut verheilen.« Sie sah ihn mit ihren unergründlichen Augen fest an. Es war ein Blick, der bis auf den Grund von Dylans Seele drang, und ihr schien zu gefallen, was sie dort sah. Der Knoten in seinem Inneren löste sich langsam, und in diesem Moment schwor er sich, notfalls noch hundert Männer zu töten, um sie zu beschützen. Und er würde es mit Freuden tun.
    Halb verwirrt, halb verlegen dankte er ihr auf Gälisch. Als sie ihn sich ihrer Muttersprache bedienen hörte, lächelte sie.
    Die Sonne stand hoch oben am Himmel, als sie in Killilan eintrafen. Von allen Seiten strömten Dorfbewohner zu dem kleinen Torfhaus, vor dem sie Halt gemacht hatten, begrüßten Malcolm, Una und Caitrionagh mit überschwänglicher Freude und musterten Dylan neugierig. Die Unterhaltung wurde auf Gälisch geführt, doch Dylan hörte den Namen Deirdre und die Worte paisd und glé mhath heraus. Das altmodische Wort »Niederkunft«, das Malcolm benutzt hatte, ergab plötzlich einen Sinn. Deirdre hatte gerade ein Kind bekommen, und die fröhlichen Gesichter um ihn herum besagten, dass Mutter und Kind wohlauf waren.
    Eine Horde schnatternder Frauen geleitete Una und Caitrionagh ins Haus, während Malcolm und Dylan abstiegen und mit drei anderen Männern draußen warteten; ein ungefähr zehnjähriger Junge führte ihre Pferde davon, um sie zu füttern und zu tränken. Malcolm und Dylan wurden aufgefordert, sich an einem Wassereimer den Schmutz und das Blut abzuwaschen. Nachdem sie sich Gesichter und Hände notdürftig gesäubert hatten, stellte Malcolm Dylan die fremden Männer vor.
    Dylan fiel es nicht schwer, sie zuzuordnen. Der leicht schielende Alexander MacKenzie, der aussah, als habe er eine Woche lang kein Auge zugetan, war offensichtlich der Vater des Neugeborenen. William MacKenzie sah Alexan-der so ähnlich und stand ihm im Alter so nahe, dass er nur sein Bruder sein konnte. Der ältere Mann, der gleichfalls Alexander hieß, aber den Nachnamen Sutherland trug, war Una und Caitrionagh wie aus dem Gesicht geschnitten und musste demnach der Vater von Una und Deirdre und somit Caitrionaghs Großvater sein. Die Männer ließen sich draußen vor der Hütte nieder, drei auf Stühlen, einer auf einem umgedrehten Eimer, einer auf einem Torfballen, und der jüngere Alexander, den alle nur Ailig Og nannten, reichte einen irdenen Krug herum.
    Der sonst so wortkarge Malcolm bestritt den größten Teil der Unterhaltung. Dylan lauschte konzentriert dem gälischen Redefluss, verstand hier und da ein Wort und begriff, dass Malcolm von dem morgendlichen Überfall erzählte. Im Laufe der Geschichte warfen ihm die drei Männer immer wieder verstohlene Blicke zu, in denen zunächst leise Zweifel, später aber beifällige Bewunderung lag. Als der Krug bei ihm anlangte, wurde er aufgefordert, einen tüchtigen Schluck zu nehmen.
    Dylan schnupperte an dem Gebräu und grinste dann breit. Er hatte schon einmal Schnaps Marke Hausbrand probiert, als er Cousins in den Bergen Kentuckys besucht hatte. Dort war es noch üblich, dass jede Familie ihren eigenen Schnaps im Keller destillierte. Aber dies hier war kein Maisschnaps; Mais wurde in dieser Gegend gar nicht angebaut. Vermutlich bestand die Grundlage aus Gerste oder Hafer, aber es handelte sich ganz eindeutig um selbst gebrannten Whisky. Dylan probierte vorsichtig. Das starke Getränk hinterließ eine feurige Spur bis hinunter in seinen Magen, er verschluckte sich und musste husten, tat aber so, als würde er sich lediglich räuspern. Der hochprozentige Alkohol auf nüchternen Magen stieg ihm sofort zu Kopf und vertrieb die entsetzlichen Bilder, die ihn während des gesamten Rittes geplagt hatten; gerne hätte er jetzt etwas zu essen und ein Bett gehabt, aber für den Moment musste wohl der Whisky ausreichen.
    Una kam mit einem runden Bannock, das ungefähr die Größe einer Langspielplatte und in der Mitte ein kleines Loch hatte, aus dem Haus. Sie befestigte das Haferbrot mit einem dünnen Eisenstab oberhalb der Tür an der Torfwand und ging wieder hinein.

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