Vogelfrei
»Das schon. Aber ich glaube nicht, dass man sie herbeiführen kann.«
»Und ich sage dir, man kann es. Ich weiß es, denn ich habe schon viele gesehen, die es geschafft haben, und das waren auch Christen und ganz gewöhnliche Sterbliche wie du.«
»Heilige.«
Sinann schüttelte den Kopf. »Keine Heiligen. Menschen, die ebenso reinen Herzens waren wie du.« Er warf ihr einen finsteren Blick zu, weil er vermutete, dass sie sich über ihn lustig machte, aber ihre Miene war ernst. »Die entscheidende Frage ist nur, ob du es versuchen willst. Du brauchst keine Angst zu haben, dein Jahwe würde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht. Denkst du, er würde dir solche Gaben schenken und dann von dir erwarten, dass du sie nicht nutzt?«
»Ich habe auch die Macht zu morden und tue es nicht, weil es schlecht ist.«
»Du hast die Macht zu töten. Diese Macht kannst du zum Guten wie zum Bösen nutzen. Du hast einen Mann getötet, aber du bist deshalb nicht böse. Du hast deine Macht nur genutzt, um etwas Böses von dir abzuwenden.« Ihre Stimme wurde leiser. »Und um zu verhindern, dass deiner geliebten Cait ein noch viel größeres Unheil zustößt. Dasselbe gilt für jedes Geschöpf auf Erden, das über gewisse Kräfte verfügt, auch für mich. Das Böse besteht nicht darin, seine Macht zu nutzen, sondern darin, sie zum Bösen zu nutzen. Und es gibt viele, die behaupten, das Wissen um diesen Unterschied mache einen Menschen erst menschlich.«
Dylan starrte Sinann an, ohne ihr eine Antwort zu geben. Er wollte ihr gerne glauben, ihre Worte ergaben durchaus einen Sinn, aber er wusste immer noch nicht, was er tun sollte.
Schließlich sagte sie: »Hör mir zu, mein Freund. Wir alle sind Bestandteile dieser Welt; jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze. Du hast einmal gesagt, du wolltest nichts von den Sidhe hören, aber ich kann dir sagen, wo du über sie lesen kannst. Hol dir Malcolms Bibel und schlag das erste Buch Mose, Kapitel sechs, Vers vier auf.«
Dylan öffnete schon den Mund, um ihr zu sagen, sie solle sich davonscheren, doch ehe er ein Wort herausbrachte, schnippte sie mit den Fingern und verschwand.
Am nächsten Morgen bat er Malcolm, einmal einen Blick in seine Bibel werfen zu dürfen, und erhielt zur Antwort, sie stünde im Nordturm auf dem Bücherregal. Dylan stieg die Stufen zu Malcolms Kammer hinauf und sah die Bücher durch, bis er auf eine abgenutzte alte Ausgabe des Lieblingsprojekts von Englands erstem Stuart-Herrscher stieß. Er schlug die Bibel an der betreffenden Stelle auf und las: Zu der Zeit und auch später noch, als die Gottessöhne zu den Töchtern der Menschen eingingen und sie ihnen Kinder gebaren, wurden daraus die Riesen auf Erden. Das sind die Helden der Vorzeit, die hochberühmten.
Dylan starrte den Text lange Zeit an, dann flüsterte er: »Ich werd' verrückt. Cuchulain und die Sidhe.«
Endlich hielt doch noch der Frühling Einzug in Ciorram. Der Schnee wurde im März zu kaltem Regen, im April dann zu etwas wärmerem Regen. Als Dylan eines Morgens durch das Loch des Abtritts spähte, sah er unten im Garten einen Mann, der die Erde umgrub und dann etwas vom Inhalt der Grube darauf verteilte. Trotz des feuchten Geruchs, der den Steinen entströmte, und dem beißenden Gestank des Düngers konnte er den Duft frisch umgegrabener Erde und neuen Wachstums wahrnehmen. Das Gras begann allmählich wieder zu grünen, und am Gartenzaun blühten die ersten weißen Rosen.
Überall in der Burg wurden Tore und Fensterläden aufgerissen, um frische Luft hereinzulassen. Das Vieh wurde aus den Ställen geholt. Die Tiere waren bis auf die Knochen abgemagert und konnten sich teilweise kaum noch auf den Beinen halten. Dylan half einigen Männern, sie fast mit Gewalt ins Freie zu stoßen und zu zerren, damit sie sich an dem frischen grünen Gras gütlich tun konnten; später dann sollten sie von einigen jungen Männern auf die höher gele- genen Weiden getrieben werden. Anfang des Monats kam sogar einen ganzen Tag lang die Sonne heraus und erweckte in Dylan vage Erinnerungen an Zeiten, da er noch nicht ständig vor Kälte geschlottert hatte. An diesem Tag wurde in der Burg kein Handschlag getan. Jedermann schien eine Entschuldigung vorbringen zu können, warum er dringend zu einem Haus im Dorf oder hinunter zum See gehen musste.
Auch Dylan stahl sich davon. Cait war zusammen mit anderen Frauen mit Weben beschäftigt, einer Arbeit, die, wie er wusste, den ganzen Tag in Anspruch nahm und bei der seine
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