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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Selbstreflexion, dass es sich um Letzteres handelte.
    Ich glaube, mein Vater genoss die Abwesenheit meiner Mutter und ihr perspektivloses Ansterben. Er war zu ihrer anfänglichen Krankheitszeit noch wirklich oft bei ihr im Pflegeheim gewesen, aber als meine Mutter dann solche Auffälligkeiten wie Inkontinenz und derbe Stimmungsschwankungen (inklusive herber Beleidigungen) absonderte, hielt sich mein Vater plötzlich stark zurück mit seinen Besuchen. Irgendwann kam er dann gar nicht mehr, fast unbemerkt von allen hatte er sich auf eine langsam ausschleichende Art davongeschlichen. Ich hatte aber das Gefühl, dass dieses Vorgehen für beide passte, dass beide Elternteile ihren beschissenen Frieden darin gefunden hatten, sich nicht mehr sehen zu müssen, sich nicht mehr ertragen zu müssen, sich langsam in eine Art Altersmilde zu vertiefen, so wie es mein Vater tat, oder einfach das Gehirn absprudeln zu lassen, wie es bei meiner Mutter der Fall war. Ihre Ehe erschien mir schon so lange wie eine Art Zwangsmaßnahme, mit der beide zwar ihr Auskommen hatten, aber glückliche Gesichter sah ich in dieser Gemeinschaft nie, immer aber pflichtbewusste.
    Der Kaffee blubberte in die schlecht gespülte Kanne. Erika sollte sich schon ein wenig Mühe geben, wenn sie sich um meinen Vater bemühte. Im Nebenzimmer hatte mein Vater den Fernseher angemacht. Es lief eine Gerichtsshow, in der gerade irgendein Jugendlicher was von «Unschuld» rumbrüllte und irgendjemand anderes das als «Lüge» hinstellte. Der TV-Dialog war laut, mein Vater ein wenig hörgeschädigt, aber zu geizig oder zu eitel für ein Hörgerät. Ich hatte in den letzten Jahren viel an diesem Mann akzeptieren gelernt, aber ich spürte immer noch mental-destruktive Erregung, wenn er mir wieder mit seiner gedeckelten, christlichen Schutzhaltung daherkam und nebenbei seine Doppelmoral so offensiv und dumm zur Schau trug, dass sie jeder siebenjährige ADHS-Gestörte mitbekam. Er hatte eine Affäre mit dieser Erika, das wusste ich, und ich wusste auch, dass er mir diese Tatsache verheimlichen wollte. Ich ließ dem alten Mann seinen Glauben, sein Sohn wäre leicht zu verarschen. Der Kaffee war fertig. Vielleicht war ich ja auch leicht zu verarschen, auf ganz tragische Weise?
    «Drei Würfel Zucker und ein Schuss Milch, aber nicht umrühren, ich mag das nicht so süß.» Diesen Satz sagte mein Vater vor jedem Kaffee, und immer wieder fand ich diese Aussage fast anrührend witzig, wahrscheinlich war das der einzige Witz, den er kannte, und diese Erika musste ihn sich tagtäglich anhören, und ich war froh, dass ich das nicht musste. Mein Vater wies ein simples, aber bis zum Umfallen haltbares Strickmuster auf. Ich liebte ihn in seiner Konsequenz und ich hasste ihn ebenso dafür. «Drei Würfel Zucker und ein Schuss Milch, aber nicht umrühren, ich mag das nicht so süß.» Mein Vater war wie eine Familienserie in der zehntausendsten Wiederholung.
    Wir tranken schweigend, während im Fernsehen ein potentieller jugendlicher Straftäter von einem völlig aufgebrachten Staatsanwalt niedergebrüllt wurde. «... und Sie haben die Frau Denise Schneider wohl im Wald sexuell belästigt ...?» «Nein!», brüllte der Jugendliche, der aussah, als sei er aus einem Hip-Hop-Streetwear-Katalog ausgeschnitten und direkt in die Gerichtsszenerie hineinkopiert worden. «Nein, das hab ich nicht, Sie müssen mir glauben, Herr Staatsanwalt.» Mein Vater lächelte. Das gespielte Leid anderer schien in ihm eine gewisse Freude zu wecken. Wir saßen auf dem alten Sofa und schwiegen wie früher, während der Fernseher die unschönen Gedanken abschnitt, zusammenkehrte und in den Mülleimer des Vergessens fegte.
    «Mama bekommt ’ne Magensonde, du musst da hin, zum Unterschreiben», sagte ich dann doch irgendwann zwischen zwei Werbespots für Waschmittel und einen Kleinwagen. «Ja, ja.» Mein Vater wandte seinen Blick nicht vom Bildschirm ab. «Mach ich übermorgen, da hab ich Zeit.» «Wär schön», unterstrich ich die Ernsthaftigkeit dieses Vorhabens. «Ja, ja», wiederholte mein Vater nochmals und schaute mich ganz kurz von der Seite an. Er war wirklich alt geworden, wirkte irgendwie zerrüttet und hilfsbedürftig, wie er da so saß, mit seinem Haushalt überfordert und von dieser Erika bemuttert. In ewigem Hilfsbedarf verweilend. Mein Vater. Er änderte seine Sitzposition ein wenig und sein schräg gearbeiteter Körper machte irgendwas mit seinem Ausdruck, was wie ein Schlaganfall wirkte, aber

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