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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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weiß, es wäre nichts geworden, nicht das, was ich mir wünschte. Es war eher ein vager Wunsch als ein: Es muss sein. Mir hat es, und damit entzog sie ihm ihre wie vergessene Hand, an diesem unbedingten Willen zum Verwerfen gefehlt.
    Der ganze Kosmos ist doch eine Reparaturwerkstatt, hatte er gesagt.
    Er hatte sie nach ihrer E-Mail-Adresse gefragt. Aber sie sagte, bitte keine Mails. Ich hasse Mails. Ich habe sie, weil ich damit zugeschüttet wurde, abgeschafft. Es geht. Die Schüler müssen sich eben mündlich oder schriftlich melden. Sonst geht die Schreibschrift verloren. Auch Simsen mag ich nicht, schon wegen dieser Dauerverstümmelung der Sprache mit den SMS, was sich doch schon nach SOS anhört. Grässlich. Etwas altmodisch sei ich, sagt mein Sohn, vielleicht hängt es ja mit meinem Fach zusammen.
    Eschenbach lachte und sagte, für sie würde er Botschaften auch in Stein meißeln, in Latein. Sie könne dann den Ablativus absolutus verbessern.
    Wir wollen die Probe machen.
    Sie sah auf die Uhr, sagte, so spät schon. Das Mädchen, das auf die Kinder aufpasst, muss nach Hause gehen.
    Eine kurze Umarmung. Das Rechts-und-links-auf-die-Wange-Küssen. Sehr nah ihre Augen. Bis bald.
    Ihr Parfum, dieser so schwer beschreibbare Duft, begleitete ihn auf dem Weg nach Hause.

    Er hatte gehört, dass sie am Donnerstag in der Nationalgalerie eine Führung machte, und war hingegangen, kam durch den Feierabendverkehr etwas verspätet in den Saal, wo er sie in einer Gruppe Zuhörer vor einem Bild stehen sah. Sie sprach in ein kleines, an einer Schnur vor der Brust hängendes Mikrofon. Die Haare wieder zu einem Pferdeschwanz gebunden, eine schwarze Jacke, darunter ein schwarzes, leicht ausgeschnittenes Top, das den Ansatz ihres Busens zeigte, ein grauer, recht kurzer Rock. Die Zuhörer, alles ältere Menschen, trugen Kopfhörer, daher ihr leises Sprechen. Er verstand nur einige Worte, Farbgebung, Linienführung, Grauwerte, war umso mehr gefesselt von ihren Handbewegungen, zierliche, und es war, als würden die Gedanken mit den Fingern getanzt. Dann entdeckte sie ihn, sie sah ihn an, stockte, sagte, als er näher an die Gruppe trat, äh, aber ein melodisch gedehntes, nie gehörtes Äh, und schwieg, bis sich die Zuhörenden, denen das Äh sehr laut in den Ohren geklungen haben musste, umdrehten und ihn, zu dem ihr Blick ging, ansahen. Und so grüßten sie sich mit einem Kopfnicken.
    Er wartete am Ausgang auf sie.

    Er hatte damals zu sich selbst und später zu einem Freund gesagt, wie kann man nur derart und auf eine so schlichte Weise fixiert sein: lange, mittels eines Gummibands zusammengehaltene Haare. Sie konnten, weil sein Blick immer wieder davon angezogen wurde, durchaus bei ihm eine Wut gegen sich selbst und diese reflexhafte Wahrnehmung auslösen, eine leichte Form des Selbsthasses auf seine Fixierung, etwa wenn er Joggerinnen sah, die Kappen trugen, den Schirm ins Gesicht gezogen, um nicht erkannt zu werden, und den Schwanz über das Mützenband gesteckt, der dann auch noch ponyhaft hin- und herschwang – einfach idiotisch. Und dennoch musste er ihnen nachblicken.
    Der Freund sagte, das ist doch Freud für Anfänger. Der Wunsch nach Nähe, nach dem Geschlecht, gleichzeitig die Angst, bei diesen Frauen, die dieses Sexualsymbol ausstellen, zu versagen. Genieße einfach deinen Pferdeschwanz, und er legte die Betonung auf Schwanz.
    Wer weiß, wer weiß, sagte Eschenbach und musste doch lachen.
    Aber dann überlegte er ernsthaft, ob er früher Mädchen an den Haaren gezogen hatte, insbesondere, wenn sie die zu Pferdeschwänzen gebunden trugen. Er konnte sich nicht entsinnen. Er hätte es sich nie getraut.

    Sie kam zum Eingang, gab das Mikrofon ab, verabschiedete sich von der Gruppe.
    Er sagte, er sei leider zu spät gekommen. Er sei so neugierig gewesen, wie und was sie zu den Bildern von Max Ernst zu sagen hatte. Und da auch dieser Abend ungewöhnlich warm war, fragte er, ob sie nicht noch ein Glas Rotwein trinken sollten, passend zu diesem toskanischen Abend.
    Ewald ist noch im Büro. Der kann nicht.
    Gut so, dachte er, schob aber den Gedanken an Selma beiseite, die in der Werkstatt arbeitete. Lass uns reden, das Reden ist doch ein anderes, wenn man zu zweit ist. Hätte ich sonst von dir erfahren, warum du nicht mehr malst.
    Einverstanden, sagte sie, aber diesmal habe sie das Recht zu fragen.

    Und so fuhren sie wieder in die von ihm ausgesuchte Bar, die ihn an Pariser Bistros erinnerte, mit der Markise, die im Sommer

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