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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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Lieder festzuhalten. Eine alte Frau könne die noch singen. Ein Wörterbuch wird erstellt. Alles in letzter Minute sozusagen.
    Die junge Frau war aufgestanden, hinaus zur Toilette gegangen, ein ruhiger, aufrechter Gang. Eschenbach fiel wieder einmal auf, wie sehr in den vergangenen dreißig Jahren die Mädchen und jungen Frauen gewachsen waren, auch hier in Frankreich. Kamen ihm früher, ging er durch die Straßen, Frauen entgegen, waren sie durchweg kleiner als er, jetzt waren junge Frauen fast gleich groß.
    Kaum war die Schöne aus dem Raum, da griff der Grauhaarige zu einem Löffel und stopfte sich schnell mit einer reflexartigen Gier, als müsse er seinen Kummer durch Essen mindern, mehrere Löffel Mousse au Chocolat in den Mund.
    Eschenbach überlegte einen Moment, ob er nicht den Freund bitten sollte, sich den Schokolade löffelnden Grauhaarigen vor dem lüsternen Fuchs und dem entsetzt zurückweichenden Wiesel anzusehen, damit er später Zeugnis ablegen könne, dass sich alles so verhalten habe und nichts hinzugefügt worden sei. Aber er ließ es sein und fragte ihn, als die junge Frau zurückkam, wem sie ähnlich sehe. Irgendeiner Schauspielerin?
    Dem Freund wollte keine Person einfallen.
    Fanny Ardant?
    Nein. Irgend so eine flache Werbeschönheit.
    Eschenbach widersprach, nein, sie sei tief unglücklich, auch über sich, über ihre Schönheit. Sie ist das Leiden des Mannes. Zugegeben, der Typ ist eine Heulsuse. Aber sie beendet etwas. Für ihn ganz endgültig. Für sie, die Junge, Schöne beginnt etwas Neues. Hat vielleicht schon begonnen. Und das, was hier zu einem Ende kam, war das eine kurze Affäre? Eine lange verdeckte Liebe? Eine offene Liebe? Nur eines ist es ganz sicher nicht, das Ende einer Ehe.
    Sag mal, was ist los mit dir? Der Freund beugte sich vor, um den Mann in den Blick zu bekommen, also nee, fire enough for a flint.

    Am nächsten Morgen fuhr Eschenbach zum Centre Pompidou. Vor dreißig Jahren hatte er diesen Bau bestaunt, ja bewundert als eine Kunstfabrik, Stahl, Glas, Kunststoff, diese riesigen Entlüfter wie auf einem Oceansteamer. Jetzt stand er da und dachte, der Platz ist ruiniert. Der Bau sah schäbig aus, obwohl er vor zwei Jahren renoviert worden war. Er ging um das Gebäude herum. Es stank nach Pisse, hinter den Stahlträgern, den Aufzügen schwarz eingefressene Pisse. Ein riesiges Pissoir. Er konnte nicht verstehen, warum er diesen Bau einmal bestaunt hatte. Gut, das war auch schon eine Ewigkeit her.
    Er setzte sich draußen vor eine Bar, dem Monstrum der Moderne gegenüber, bestellte sich einen Kaffee und beobachtete einen bärtigen Zerlumpten, der über den Platz kam, einen alten Kinderwagen schiebend, darin zwei Säcke. Mit einem Rauschen kamen Taubenschwärme geflogen und ließen sich um den Mann herum nieder. Der öffnete einen Sack, schöpfte mit der Hand die Körner heraus und streute sie mit schwingender Armbewegung, einem säenden Bauern ähnlich, aufs Pflaster. Ein lärmendes Geflatter, ein hektisches Hüpfen, Trippeln, die Tiere pickten das Korn. Es stank nach Taubenscheiße.
    Eschenbach fragte sich, woher der Mann das Getreide bekam und warum die Bar nicht gegen diesen Gestank protestierte. Er warf sein Kleingeld auf den Tisch und ging, bevor er sich übergeben musste.

    Er hatte sie, zurück aus Paris, gleich angerufen. Wir müssen uns sehen. Sofort. Sie hatte gesagt, das ist kompliziert. Morgen Nachmittag?
    Nein, sofort.
    Ein beglückendes Ja.
    Sie trafen sich nicht in ihrer Bar, sondern diesmal gleich in seiner Wohnung, und es war, als wären all ihre Bedenken und Vorsätze von ihr abgefallen. Sie sagte, ich bin denkunfähig. Wo ist rechts, wo ist links? Einmal von ihren Vorsätzen befreit, genoss sie ihre Haltlosigkeit.

    In der Folge sahen sie sich unter den aberwitzigsten Umständen. Er lief, rief sie an, aus Besprechungen, sagte, entschuldigt, denn alle duzten sich im Büro, ich muss zum Arzt. Und er sagte sich solche albernen Sätze vor, sie ist mein Arzt, sie kann mein Herz beruhigen. Was unsinnig war, denn seine Herzfrequenz stieg bei ihr spürbar an. Sie kam zwischen zwei Unterrichtsstunden, da sie sich aber für nur eine entschuldigt hatte, weil sie zum Arzt müsse, dann aber die Zeit vergaß, wohl auch vergessen wollte, kehrte sie in die Schule zurück und fand die Kinder allein im Werkraum beim Malen. Sie sei, sagte sie ihm später, glücklich, dieses Fach und nicht Mathematik oder Physik zu unterrichten. Ein Kollege hatte der Klasse, die auf ihre

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