Vogelweide: Roman (German Edition)
Sessel. In der anderen Zimmerecke eine dramatische präparatorische Arbeit: Auf einem gut zwei Meter langen, schräg in den Raum ragenden Ast saß oben, am äußersten Ende, ein Wiesel, wie dorthin geflohen, den kleinen Rachen aufgerissen, während ein Fuchs, den schrägen Ast hochsteigend, die Schnauze geschlossen hielt, was wohl, so die Vorstellung des Präparators, die aufgenommene Witterung andeuten sollte. Jedoch war es dem Künstler nicht gelungen, tödliche Fressgier in die Augen und in die Schnauze zu bringen. Vielmehr spielte – und wer weiß, vielleicht war eben das die kühne künstlerische Absicht – um die dem zierlichen Wiesel sich nähernde Fuchsschnauze etwas lüstern Geiles. Das Ensemble hätte auch in einem Bordell stehen können. Womöglich hatte schon Toulouse-Lautrec diese ovidsche Szene bewundert. Gab es nicht von ihm eine Lithographie mit der Darstellung von einem geilen Fuchs? Eines dieser als Kragen zu tragenden Fuchsfelle, mit glasäugigem Kopf und baumelnden Pfoten direkt auf dem über das Korselett quellenden Busen?
Der Freund, er hatte die Szene nicht im Blick, erzählte ungerührt von seiner Arbeit, in der es um die Erhaltung und Förderung gefährdeter Sprachen in Europa ging. Die Senegalesin kam und empfahl das Tagesmenu.
Du vin?
Côte de Beaune!
Die Senegalesin klopfte ihm auf die Schulter. Griff ihm wie einem dicken Kater in den Nacken, woraufhin er schnurrte, die Schulter hoch- und den massigen Kopf einzog. Wieder freigegeben, erregte er sich über die fucking Verwaltung der UNESCO, die als Institution das Vernünftigste überhaupt sei, nur müssten diese – abermals fucking – nationalen Interessen zurückgedrängt werden.
Eschenbach hörte ihm zerstreut zu. Im Nebenraum hatte er an einem Tisch eine junge Frau entdeckt. Ihr gegenüber saß ein grauhaariger Mann, gutaussehend. Eschenbach konnte eine lange Zeit beide nur im Profil sehen, und er war von dem Gleichmaß von Stirn, Nase, Mund und Kinn, von der Schönheit der jungen Frau berührt. Nebenher hörte er den Freund mit seinem diesmal besonders breiten englischen Akzent von den aussterbenden Sprachen in Europa reden, weltweit sterben jedes Jahr zwanzig aus. Sieh dir das Ostfriesische an. Eschenbach aber hatte nur Augen für die Frau, die, als ginge es um ihr Leben, dem Reden des Grauhaarigen lauschte. Hin und wieder ihr Kopfschütteln, ein sehr langsames, nachdenkliches, dann sein Griff zu ihrer auf dem Tisch liegenden Hand, die sie ihm ließ. Sie fing an zu weinen, ein zurückhaltendes Weinen, sie entzog ihm langsam die Hand, wischte sich die Augen. Und wieder dieses zögernde, bekümmerte Kopfschütteln. An ihrer Linken ein Ring, mit Brillanten. Eschenbach vermutete einen Ehering und dachte, wie unhöflich seine zerstreute Aufmerksamkeit dem Freund gegenüber sei, den er immer wieder durch ein Ach ja und ein Tatsächlich weiterreden ließ und der nichts bemerkte, so versunken war er in seinen Projekten, zum Beispiel dem Erhalt des Zimbrischen, das, ein mittelalterlicher deutscher Dialekt, nur noch von einer Handvoll Leute in oberitalienischen Sprachinseln gesprochen werde. Kurz blickte die Frau zu Eschenbach herüber, der sie jetzt schamlos anstarrte. Seine Neugier fand sich in ihrem fragend erstaunten Blick wieder. Sie wandte sich schnell dem Grauhaarigen zu, der in eben diesem Moment zu weinen begann, er schluchzte auf, ein Schütteln ging durch seinen Oberkörper, die Hände hielt er sich vor die Augen. Die junge Frau zog ihm sacht eine Hand vom Gesicht, drückte sie, hielt dabei selbst die Augen geschlossen, im Gesicht eine tiefe Konzentration, als wolle sie ihm ihre Kraft geben oder einfach den Schmerz durch kräftiges Drücken ableiten. Sein Weinen hörte nicht auf. Schon war der Tisch benetzt. Eschenbach glaubte, nie so viel Tränenflüssigkeit gesehen zu haben, und sagte sich, der da weint, nimmt Abschied, endgültig, vom Leben. Was jetzt kommt, ist Alter und Tod. Einmal drehte der Mann ihm kurz das Gesicht zu, und Eschenbach war enttäuscht von den weichen unbeherrschten Gesichtszügen. Er hatte gedacht, der Mann kämpfe gegen den Zusammenbruch an, aber er wirkte so, als hätte er sich nur ein wenig gehen lassen.
Das Zimbrische, hörte er den Freund sagen, das Toitsches Gaprècht , sprechen nur noch fünfzig Leute. Der Jüngste sei sechzig. Im Ort Roana. Er habe, sagte der Freund, ein Sofortprogramm gestartet. Zwei junge Sprachwissenschaftler mit Aufnahmegeräten losgeschickt, um wenigsten ein paar der
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