Vogelweide: Roman (German Edition)
Lehrerin wartete, gesagt, sie solle schon mal mit dem Malen eines Kaktus, der auf der Fensterbank stand, anfangen. Sie kam, rotfleckig im Gesicht, ins Klassenzimmer und sagte: Entschuldigung, mir ging es nicht gut.
Ja, mir ging es nicht gut, sagte sie, als sie am nächsten Tag zu ihm kam, ich war krank. Krank von der Trennung, ich war herumgefahren. Hatte mich verfahren. Ich irrte durch die Stadt, konnte im Kopf nicht Straße zu Straße ordnen.
Wenn sie sich zu viert trafen, dachte er, man müsse es zumindest Anna ansehen, Ewald, ihr Mann, die so genau beobachtende Selma, denn Anna strahlte, und er dachte, auch ihm müsse man das Strahlen, die Leichtigkeit ansehen, ja, es war damals, als er den Physiologen gefragt hatte, ob die Glanzkörper durch Emotionen aktiviert werden können. Ja natürlich. Aber es waren nicht nur die Augen, es war dieses messingfarbene Haar, das voller schien, leuchtender, und aus dem sich, trug sie es zusammengebunden, immer wieder eine Strähne löste, seitlich, und ihr über Stirn und Wangen fiel.
Am Abend, nach einem Treffen, sagte Selma, und er hörte es mit Schrecken, Anna hat sich verändert.
Wieso?
Sie leuchtet regelrecht.
Findest du?, war seine einsilbige Antwort.
Ja.
Dass Ewald es nicht sah, konnte er sich nur mit dessen Reisen nach China erklären und den Sorgen, die mit dieser Großbaustelle verbunden waren.
Unter dem Vorwand, er habe seine Schlüssel verloren, hatte er Selma die Schlüssel zu seiner Wohnung abgenommen, dabei zu sich selbst gesagt, ich bin zu jeder Gemeinheit fähig. Dann aber, als bei Selma die hölzernen Fensterkreuze herausgenommen und durch scheußliche Kunststoffrahmen ersetzt wurden und sie für zwei Wochen zu ihm zog, waren sie zu Anna gegangen, in ihr Haus, die Kinder in der Schule, das Au-pair-Mädchen im Deutschkurs, und ohne zu zögern, da war keine Überlegung zu Anstand, Takt, Rücksichtnahme, Moral, schliefen sie miteinander im Ehebett. Sie waren, so sagte er es für sich und für sie, von Sinnen.
Bald, schon nach dem dritten dieser Treffen, so nahe ihren Augen, die sich, als suchten sie etwas, unter den Lidern bewegten, sagte er, was am schwierigsten zu sagen ist, kaum aussprechbar, diese einfachen, missbrauchten Worte.
Und auch sie sagte: Ich liebe dich und werde dich immer lieben.
Es waren noch drei Monate, drei irrwitzige, fraglose Monate.
Sie waren von Sinnen.
Und wann kamen sie wieder zu Sinnen?, fragte er sich, die beiden Singdrosseln beobachtend, die bald Richtung Süden fliegen würden. Sie waren im März aufgetaucht, zwei Misteldrosseln, auch auf dem Festland selten, hier auf der Insel, wie er in den Berichten nachforschte, noch nicht beobachtet worden. Und er fragte sich, ob das Paar, das unter der Rosenhecke nicht weit von der Hütte entfernt brütete, gemeinsam gekommen war. Diese romantische Vorstellung, wie die beiden sich entschlossen, vom Festland, dem Bekannten, über das Meer zu dieser kleinen Insel zu fliegen, um hier das Nest zu bauen. Zwei Jungvögel hatten sie großgezogen.
Unter dem dichten Dunkelgrün der Kamtschatkarosen war der gesprenkelte weiße Bauch mit den dunkelbraunen Tupfen zu sehen. Am frühen Morgen und am späten Abend hörte er ihren alles sprengenden Gesang. Er lag und lauschte in sich, als sei er es, der sang.
Der Anstoß kam von außen. Sie erkannte plötzlich etwas in ihrem Handeln, was sie unwürdig fand. Die Lügen. Noch sind es kleine. Sie hatte auf die Frage Ewalds, warum sie derart aufbrausend sei, geantwortet, die Klasse, die sie in Latein unterrichte, sei sehr laut, unkonzentriert, ja renitent, dass sie das nicht einfach abschütteln könne. Die Klasse war aber eine normale, eher ruhige, konzentrierte Klasse. Und dann hatte Ewald einmal unvermittelt nach Eschenbach gefragt, ob der in Arbeit ertrinke oder finanzielle Probleme habe, weil sie sich seit dem Essen nur noch selten getroffen hätten. Ich weiß nicht, frag ihn doch, habe ich gesagt. Und jetzt will er dich fragen, erzählte sie Eschenbach, nachmittags in einem Hotel. Er will seine Hilfe anbieten. Und dann, nach einer langen Pause, sagte sie: Ich handle unwürdig.
Gilt die Würde, wenn Liebe nicht zu sich selbst kommt?
Das ist Sophistik, sagte sie.
Nein, das ist die Wahrheit.
Die Nase hatte ihn hier oft besucht, ließ sich nicht verscheuchen, stand in der Hütte herum, der ewige Streber, immer den Finger des Besserwissens in der Luft – ein falsches Bild, denn Eschenbach hatte ihn nie den Finger hebend, sondern immer
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