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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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wieder flott zu kriegen.
    Eschenbach hatte, was nie seine Absicht war, ihr Vertrauen gewonnen. Sie kam, um zu erzählen. Auch, um sich zu rechtfertigen.
    All diese Anfeindungen, sagte sie, und Diffamierungen in den letzten Jahren. Tatsächlich sei sie schon 1935 im Widerstand gewesen.
    Im Widerstand?
    Ja, so fühlten wir uns im Kreis der Studenten. Wir sagten alles, was wir dachten.
    Und später als Journalistin, beim Schreiben?
    Sie habe sich immer der Wahrheit, soweit es irgend möglich war, verpflichtet gefühlt. Ihre Artikel hätten Goebbels auf sie aufmerksam werden lassen. Sie sei in das Propagandaministerium bestellt worden, dort habe man ihr eröffnet, er, der Herr Minister, genannt die Kaulquappe, weil, sie zögerte, nur Schwanz und Maul, wolle einen seiner drei Assistenten an die Front schicken und dafür sie als Assistentin einstellen, ja, das gute Aussehen kann zum Nachteil gereichen.
    Gereichen ist gut.
    Später hat auch Adenauer gesagt, er kenne niemanden, der so schöne Augen habe wie sie. Und im Propagandaministerium wusste man, wenn der geile Goebbels Assistentin sagte, was alles gemeint war.
    Ablehnen?
    Unmöglich. Ich stand unter schärfster Beobachtung, weil ich kritisch über die Unterbringung von Ostarbeiterinnen geschrieben hatte. Was tun? Einfach Nein sagen? Mein Körper rettete mich. Ich wurde krank. Fast ein halbes Jahr lag ich mit Gelbsucht, Scharlach, Diphtherie im Krankenhaus. Danach hatte mich Goebbels vergessen. Ich habe, wie so oft in meinem Leben, Glück gehabt. Ein Grundgefühl aus der Kindheit, beschützt zu sein.
    Sie redete schnell, den Kopf vorgeschoben, und beendete brisante Aussagen mit dem Zeigen der oberen Zähne. Eschenbach war sich noch immer nicht sicher, ob es ein Gebiss war.

    Selma kam oft in die Hütte, um ihm von einem Film zu erzählen, wie damals nach der Nachtvorstellung. Aufgewühlt das Haar, nass, es hatte geregnet, war sie in seine Wohnung gestürmt und hatte gesagt, wir müssen den Film unbedingt noch mal zusammen sehen, Die süße Haut . Sie setzte sich in ihrer türkischen Pumphose in seinen Lesesessel, noch ganz erfüllt von dem Film und mit glühenden Wangen wollte sie, wie jedes Mal, wenn sie ein Film begeistert hatte, die Handlung nacherzählen, auch noch dann, als er sagte, er habe den Film vor gut dreißig Jahren gesehen, fragte sie wie bei einer Prüfung nach der Handlung und da er nur sehr allgemein von Ehebruch und einer Tötung aus Eifersucht reden konnte, legte sie wieder los, erzählte von dem älteren verheirateten Schriftsteller, der eine junge Stewardess kennenlernt, sich verliebt, mit ihr nach Reims fährt, wo er einen Film in einem Kino einführen soll, über einen, wie heißt der, Gide?
    Vielleicht.
    Der Schriftsteller wird nach dem Vortrag aufgehalten, muss mit dem Veranstalter essen gehen, kommt in dem Restaurant am Fenster zu sitzen und kann von dort beobachten, wie seine schöne junge Geliebte, die draußen auf ihn wartet und auf und ab geht, von Männern angesprochen wird, da die denken, sie sei eine Nutte.
    Eschenbach schenkte ihr ein Glas Rotwein ein und hoffte, sie von der Handlungserzählung abzubringen, konnte sie aber, wollte er nicht einen ihrer Jähzornausbrüche provozieren, nicht bremsen. Er hatte schon als Jugendlicher darunter gelitten, wenn man ihm Filme nacherzählte. Und musste ausgerechnet Selma treffen, die es mit Inbrunst und in aller Ausführlichkeit tat. Sie griff oft erläuternd in die Handlung ein, liebte im Erzählen Vor- und korrigierende Rückgriffe.
    Also die beiden, der Schriftsteller und die junge Frau, die Nicole heißt, die beiden gehen in ein kleines Landhotel und verbringen eine Nacht zusammen; und das ist so wunderbar, nichts wird gezeigt, keine Bettszene, kein Keuchen, sondern nur dieses Bild, morgens stellen sie das Frühstückstablett vor die Tür und eine Katze kommt, steigt vorsichtig über Teller und Tassen und leckt an der Milch und dem Honig. Ich will den Film nochmal mit dir sehen. Und auch den, wie heißt er noch, Auf Liebe und Tod, in dem Jean-Louis Trintignant im Keller versteckt sitzt und die Frau, Fanny Ardant, die in ihn verliebt ist, so wie ich in dich, die er aber noch gar nicht richtig als Frau gesehen hat, ihn dabei beobachtet, wie er aus einer Kellerluke hochblickt auf die Beine der Frauen, die vor dem Schaufenster stehen, und sie, die von seiner Unschuld überzeugt ist, sie geht hinaus und hinauf und aus dem Laden, und man sieht, also wir, die Zuschauer, sehen, wie sie vor dem

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