Vogelweide: Roman (German Edition)
erfolgreichen Suizid nicht einmal hoch genug. Dann hatte er drei Gläser Whisky getrunken, nicht, wie er sich später eingestehen musste, um den Kummer zu betäuben, sondern weil es den Vorstellungen von einer solchen Situation entsprach.
Am vierten Tag stand er auf, rasierte sich, duschte, stellte sich auf die Waage, er hatte zwei Kilo verloren. Er zog sich an und ging hinaus. Vor der Wohnungstür standen zwei Flaschen Milch, von Selma hingestellt, die wusste, dass er Tee mit Milch trank. Ein kleiner Zettel mit einem roten Herz war an einer der Flaschen befestigt.
Am dritten Tag hatte sie es wohl aufgegeben, noch mehr Flaschen zu bringen. Aber es war eine Flaschenbotschaft, die ihn rührte. Er war einen Moment dem Weinen nahe, nicht aus Selbstmitleid, sondern darüber, was er ihr angetan hatte. Den Schmerz, den er ihr zugefügt hatte. Er war für sie das Unglück geworden. Hatte ich eine Wahl, fragte er sich.
Nach der Auferstehung, am vierten Tag war er am Abend zu Selma in die Werkstatt gegangen und hatte sich wie immer ihr gegenüber an den Werktisch gesetzt und ihr erzählt, was gewesen war zwischen ihm und Anna. So wie sie saßen, war es wie früher, nur dass sie nicht arbeitete. Sie lauschte, als höre sie eine ferne traurige Melodie, ohne ihn anzusehen. Und als sie ihn ansah, Trauer in den Augen, und in ihrem alten Deutsch sagte, es reißt mir das Herz entzwei, da war es die Beschreibung dessen, was er in sich fühlte. Sie weinte mit kleinen Seufzern, wie Kinder weinen. Er hielt ihre Hände und saß und schüttelte immer wieder den Kopf, ratlos über sich und über das, was er hätte sagen können.
Als sie sich ein wenig gefasst hatte, sagte sie, alles an euch drängte zueinander, damals in der Galerie, mit den schrecklichen Leuten, ich habe es geahnt, ja, mein Herz wurde mir schwer, aber ich habe gehofft, es geht vorbei, sagte sie, die wieder weinte, auf eine ihn beschämende untröstliche Weise weinte, und später habe ich es gewusst, dass ihr zusammen wart, ich habe es einfach gespürt. Ich hoffte, du wirst mir wieder gut sein.
Und jetzt?
Später war es dieses Bild, das ihm immer wieder, wie auch jetzt, vor Augen kam und ihm für einen Moment den Atem nahm: Ihr stilles Weinen, in dem kein Vorwurf, nur Trauer war, und diese altertümliche Wendung: Du wirst mir wieder gut sein.
Und wenig später war sie Ewald gut.
Es war Zeit, ins Büro zu fahren und denen, die dort saßen und warteten, zu sagen, dass ihre Arbeit mit ihm zu Ende sei. Mit einigen der Programierer, Frauen und Männer, hatte er schon Jahre zusammengearbeitet, andere waren neu hinzugekommen, aber sie waren eine gut eingeübte Mannschaft, mit der man jederzeit um Kap Hoorn segeln konnte. So hatte es Eschenbach gesagt, als sie ihr Sommerfest auf einem Haveldampfer feierten. Mit Reden und der Taufe, der sich jeder der neu Hinzugekommenen auf der Havel unterziehen musste. Eine Jazzband spielte, alte Herren, die schon in der Eierschale aufgetreten waren, als Eschenbach noch Student war. Sie hatten viel getrunken, getanzt und auch gesungen. Selma tanzte mit einem jungen Informatiker.
Um die Informatiker musste er sich keine Gedanken machen, sie würden, wenn denn nicht die ganze Firma aufgekauft wurde, schnell einen neuen Job finden. Das galt auch für die beiden hier illegal lebenden russischen Mathematiker. Schwieriger war es für diejenigen, die er in dem Büro untergebracht hatte. Einen Chinesen, der als Fahrer arbeitete, die Putzkolonne aus Albanien.
Er kam ins Büro und sah in die Gesichter mit einem schüchtern fragenden oder fassungslosen Ausdruck, sagte, es tue ihm leid, er hätte sich früher fangen müssen, doch selbst dann, wenn er die letzten Tage auf der Brücke gestanden hätte, wäre der Konkurs nicht mehr zu verhindern gewesen. Das Schiff sei von auflandigem Wind auf die Klippen getrieben worden. Hinzu sei ein nautischer Fehler gekommen. Das Besteck sei fehlerhaft gewesen, vor allem aber, seine Berechnungen hätten nicht gestimmt.
Verwundert sahen sie ihn an. Ein Nervenzusammenbruch? Hatte er gekokst? Auflandiger Wind. Fehlerhaftes Besteck. Oder simulierte er?
Vierzig Frauen und Männer saßen in der Halle, in der vor dreißig Jahren noch Tuchbahnen zugeschnitten und Kittel genäht worden waren. Eine Fabrik für Arbeitsbekleidung. Der junge Mann aus China, den er auf Vermittlung von Ewald angestellt hatte, für Besorgungsfahrten, dessen Deutsch ganz gut, aber nicht so gut war, dass er ein metaphorisches Sprechen
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