Vogelweide: Roman (German Edition)
verstand, glaubte, ein Betriebsausflug auf einem Schiff stehe wieder bevor und gab zu bedenken, er könne nicht schwimmen.
Das Lachen aller brachte die Erlösung aus der Starre.
Die Insolvenz musste er nicht beantragen, das hatte schon das Finanzamt getan.
Es war ihm nicht mehr peinlich. Auch hier in der Hütte nicht. Peinigend war ein anderes Bild. Er hatte versucht, sie anzurufen. Er hatte auch Ewald angerufen. Der Anrufbeantworter war sowohl beim Festnetz als auch bei den Handys ausgeschaltet. Keine Stimmen, weder von Anna noch von Ewald, die von Nummer hinterlassen und Rückruf sprachen. Was bedeutete das? War Ewald verreist? Waren sie beide verreist? Versöhnung?
Nach einigen Tagen war er, um mit ihr zu reden, zu dem Gymnasium, an dem sie unterrichtete, gefahren und hatte dort wie ein Achtzehnjähriger auf sie gewartet. Es ist unwürdig, wie du dich benimmst, sagte er zu sich selbst. Und doch blieb er stehen. Nach einer geraumen Zeit kam sie mit einer Kollegin heraus, sagte, als er sie ansprach, mit Bestimmtheit: Nein. Bitte, lass mich.
Er hörte die Kollegin noch fragen: Was wollte denn der Typ?
Deren Stimme blieb ihm, wie das Gesicht, die Brille, die kurzgeschnittenen Haare, im Bewußtsein haften. Ein überschminkter schmaler Mund, aus dem die Frage kam: Was wollte denn der Typ?
Das hatte sich festgehakt – der Tonfall und das Bild.
Nach gut zwei Monaten auf der Insel hatte sich sein Zeit- und Ortsgefühl verändert. Das war, schien ihm, ein Aufstand der Vergangenheit, sie drängte sich in die Gegenwart. Wie gleichgültig das Zukünftige sich entzog. Hingegen waren die Himmelsrichtungen, auch wenn der Himmel völlig bedeckt war oder Regen fiel, in ihm, schufen ein Zeitgefühl, sodass er die Uhr ablegen konnte.
In der tiefen Dunkelheit lag er auf dem Bett und lauschte. Es war, als atme die Nacht, sacht, manchmal heftig, zuweilen ein Keuchen. Und hin und wieder ein Ächzen, als träume das Holz.
Er hatte keinen weiteren Versuch gemacht, sie zu treffen. Und sie begegneten sich auch nicht zufällig, wie früher einmal in einem Linienbus, ein paar Tage nach dem ersten Zusammensein, wie sie es später nannte. Sie war eingestiegen und auf ihn geprallt. Sie hatten sich einen Moment angesehen, überrascht, bestürzt, und ihm und ihr war keine der Floskeln, die solche Momente des Überraschtseins auffangen, eingefallen. Sie sahen sich an, und später sagte sie, es war ein Schreck. Ich weiß seitdem, was es heißt: Mir ist das Herz stehengeblieben.
Was ist es, was den Wunsch weckt?, fragte die Norne. In ihrem Gesicht war etwas Katzenhaftes. Genaugenommen dürfte sie nicht auf diese Insel kommen, dachte er.
Ein Bild, sagte er, das wir in uns tragen. Wir haben tief eingeprägt eine Idee vom anderen. Plötzlich begegnet uns jemand, und wir wissen, dieser Jemand ist unser Schicksal.
Schön, schön, sagte sie, wunderbar, das müssen wir zusammentragen, und zwar nicht umständlich im Suchen und Herumtappen, in der Hoffnung, den Richtigen irgendwann doch zu finden. Wir müssen es steuern. Das Internet ist die wunderbare Möglichkeit.
Nein, das darf ich als Fachmann sagen, es fehlt der Körper. Die Erscheinung, Geruch, Haut, der Blick. Sie kennen die Geschichte von Ingeborg Bachmann?
Nein.
Max Frisch hat sie erzählt. Die Bachmann trifft in Wien einen älteren Mann, wahrscheinlich Jude, den sie gesehen, aber nicht gesprochen hat. Sie verstanden einander in einem Blick, so schien es ihr, und sie floh wie vor einem Schicksal. Das genau, das ist es, was mich interessiert. Dieser Blick, diese Ahnung. Ich bin überzeugt, dass wir in unserer Seele einen besonderen Teil haben, der einem anderen vorbehalten ist. Dort sehen wir die Idee unserer anderen Hälfte, wir, die Unvollkommenen, suchen nach dem Vollkommenen im anderen. Äußerlich und seelisch. Lieben heißt, den anderen überbewerten. Die Liebe macht ihn und uns einzigartig. Das Abenteuer des Suchens: eine Selbstverpflichtung im Leben, die Ergänzung zu finden. Ich fange an zu predigen, dachte er, die Insel hier verführt dazu.
Aber das alles hört sich jetzt sehr, wie soll ich sagen, sehr defensiv aus Ihrem Mund an. Es gibt doch wunderbare neue Möglichkeiten, sich dem Glück systematisch zu nähern und nicht auf den Zufall an der Haltestelle oder im Zugabteil zu warten. Darum habe ich Sie an den Tisch der Erwählten geholt. Ihre Erfahrungen, junger Mann, brauchen wir, und Ihre Kenntnisse.
Er sagte nur, na ja, was heißt jung, wollte sagen, er werde bald
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