Vogelweide: Roman (German Edition)
vierundfünfzig, unterließ es aber, da sie hätte denken können, er wolle auf seinen Geburtstag hinweisen.
Das Netz macht eine neue Form der Wunscherfüllung möglich.
Das Wort Netz hatte in ihrem Mund etwas Frivoles. Er wusste nicht, wie er dieses philosophische Kaffeehaus-Colloquium in einer höflichen Form abbrechen konnte.
Die Anonymität, sagte sie, nimmt dramatisch zu. Das sind anthropologische Veränderungen, die uns bevorstehen. Ein Umbruch, in dem wir leben, vergleichbar nur dem Umbruch von der Maschinenzeit in die Zeit der Elektronik. Wir sind in der Zeit der Strahlung angekommen. Das hier soll Grundlagenforschung sein, wiederholte sie, für das, was auf uns zukommt.
Vier Leute habe sie für diese monumentale Arbeit vorgesehen. Er war einer von den vieren in Guinevras Tafelrunde.
Ob er nicht mit den anderen dreien sprechen könne.
Nicht jetzt. Es gelte, den unbeeinflussten Blick zu behalten.
An seinem Geburtstag wurde von einem Delikatessengeschäft ein großer Korb geliefert mit Gänseleber, Wildschweinsalami mit Trüffeln, Kaviar, eingelegten Wachteleiern und drei Flaschen Rotwein aus Burgund.
Als er sich bei dem nächsten Treffen bedankte und fragte, wie sie das Datum erfahren habe, sagte sie, ich weiß viel.
Er hatte sie später noch drei-, nein, viermal getroffen. Sie kam nach Berlin und wollte ihn sehen, wollte vom Fortgang seiner Interviews hören, vor allem, das war sein Eindruck, wollte sie ihm aus ihrem Leben erzählen, ihn für dieses Projekt begeistern.
Das Glück, sagte sie, man muss wissen, was man will, man muss es berechnen können, will man es erreichen. Einen Glücks-Algorithmus.
Nein, sagte er, das wäre die Kolonisierung der Zukunft.
Er hatte ihr von den Tannenmeisen erzählt. Die, wenn die Weibchen fremdgehen, ihre Schwanzfedern verlieren.
Die Vögel, sagte sie allen Ernstes, sind weit weg.
Eben darum. Sie sind uns wie die Fische fern und doch so nahe, da sie eine Stimme haben. Sie singen, das ist das Wunderbare. Sie und die säugenden Wale sind die Tiere, deren Stimme wir verstehen, ihren Gesang.
Aber die Vögel müssen singen. Es ist ein Zwang. Etwas Mechanisches.
Wer weiß, vielleicht gibt es Vögel, die verstummen, aus Kummer, so wie die Tannenmeisen ihre Schwanzfedern verlieren. Vielleicht erfreuen sich die Vögel an dem eigenen Gesang. Als Kind sei er überzeugt gewesen, dass die aufsteigenden Lerchen von ihrem Gesang beseelt waren.
Da sah ihn die Norne einen Moment kühl und fragend an, und er merkte, dass ihr die Frage durch den Kopf ging, ob dieser Mann nicht eine Fehlinvestition sei.
Er hatte daraufhin in ihr Apfelland einen Brief geschrieben und darin als Beleg für das, was er meinte, ein Zitat aus einem Interview mit Lévi-Strauss eingefügt:
Was ist der Mythos?
Wenn Sie die Frage einem amerikanischen Indianer stellen würden, würde er Ihnen wahrscheinlich antworten, dass es eine Geschichte sei aus der Zeit, bevor Menschen und Tiere getrennte Wesen wurden. Diese Definition scheint mir sehr tiefgründig zu sein. Denn trotz der Tinte, die von der jüdisch-christlichen Tradition zur Verschleierung dieses Tatbestandes vergossen wurde, ist keine Situation tragischer, verletzender für Herz und Geist als die einer Menschheit, die mit anderen lebenden Spezies zusammen existiert und mit ihnen die Freuden des Planeten teilt, ohne fähig zu sein, sich mit ihnen zu verständigen.
Bei dem nächsten Besuch in Berlin hatte die Norne – wieder mit dem Säckchen der durstlöschenden Maigold aus dem Garten der Hesperiden – auf seine Frage, was sie an einem Partner denn am meisten störe, Langeweile gesagt. Äußerliches spielt nicht die Rolle, gutes Aussehen, jedenfalls nicht bei Männern. Sicherlich im ersten Moment. Beim Entdecken. Aber das relativiert sich schnell. Auch die Glatze ist kein Handicap, wie die meisten Männer glauben. Viel Haar hilft keineswegs, wenn sich der Abend beim Gespräch hinschleppt. Tatsächlich wird die Qualität der Unterhaltung mit der des sexuellen Erlebens kurzgeschlossen. Übrigens auch das Essen. Hätten Sie meinen letzten Mann kennengelernt! Er war kahl, aber ein hinreißender Erzähler. Sehr klug, ein berühmter Physiker, und kochen konnte er auch. Übrigens, dieser Zusammenhang Erzählen, Lieben, Kochen, das ist in Feinuntersuchungen nachgewiesen, sagte die Norne, ein erstaunlich fester sozialer Klebstoff. Langeweile ist der flache Strand, auf dem alle Barken der Liebe stranden. Und sie sind, das ist eine Gewissheit, nie
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