Vogelweide: Roman (German Edition)
genug, dachte er, dass sie ihm bis heute grollte, obwohl sie seit der Trennung alle nur denkbaren Freiheiten genoss, kein deutscher Winter, keine beruflichen Probleme, jüngere Männer, eine Tochter, die aus dem Haus war und nicht mit ihr, sondern mit ihm haderte. Allerdings hegte sie die Befürchtung, ihr Geld sei von ihrem Bruder nicht richtig angelegt worden. Darum wohl hatte die begabte Tochter Sabrina den geheimen Wunsch der Mutter befolgt, hatte Volkswirtschaft studiert und war ins Bankgewerbe gegangen.
Sabrina war, wie Eschenbach fand, ein idiotischer Name. Die Tochter hatte ihn bekommen, weil es eine Patentante gab, eine Erbtante, die diesen Vornamen trug. Beim Öffnen des Testaments wurde dann aber offenbar, dass Tante Sabrina ihr Vermögen dem Tierschutz vermacht hatte. Er hatte die Gesichter der drei Geschwister immer noch vor Augen, als das Testament von dem Notar verlesen wurde. Fassungslosigkeit. Ja, sie hatten für einen Augenblick die Kontrolle über ihre Gesichter verloren. Er musste sich beherrschen, nicht laut loszulachen.
Wie erstaunlich war es doch, dass dieses Kind, Sabrina, trotz der wechselnden Männer, die bei seiner ehemaligen Frau kamen und gingen und unterschiedliche Vorstellungen von Erziehung hatten, das galt auch für ihn, so unversehrt, so selbstbewusst, so kämpferisch geworden war. Zu ihm kam sie immer wieder und, so durfte er vermuten, gern, um ihm Vorwürfe zu machen, wie er nach dem Crash – so ihre Worte – seine Tage verbummle, was für ein Versager er sei. Wie konnte aus diesem ängstlichen Kind, das nicht ins Wasser wollte, von jedem Barren fiel, vor jeder Klassenarbeit kotzte, eine so disziplinierte, erfolgreiche junge Frau werden? Eine Frau, die sich im Überlebenskampf der Börsen-geschäfte behauptete. Hin und wieder sah er sie im Fernsehen, wenn sie zum Börsengeschehen befragt wurde. Jedes Mal wieder sagte er sich, als müsse er sich dessen versichern, das da ist deine Tochter. Ruhig gab sie ihre Kommentare, gefasst, oder, wie sie wohl selbst sagen würde, cool, aber er sah ihrem Mund, ihren Augen an, unter welcher Anspannung sie sprach, wie schwer die Arbeit war, so gelassen professionell zu wirken.
Einen Monat, bevor er zu der Insel gefahren war, tauchte die Tochter, kaum vorstellbar, mein Kind zu sagen, bei ihm auf, kam auf hochhackigen Schuhen, die sie sich sofort von den Füßen streifte, wohl streifen musste, weil sie drückten, in die Wohnung, küsste ihn auf die Stirn, sagte, gut siehst du aus, so braun gebrannt wie einer dieser Rentnertouris.
Ja, ich sitze oft im Park, hatte er gesagt und ihr ein Glas Whisky angeboten, um ihre Erwartung zu bedienen. Sie hatte ihm sogleich Vorwürfe gemacht, dass er nicht anständig arbeite. Nur herumhänge. Sie kam und redete, und er dachte, sie wiederholt wörtlich das, was ich ihr vor 16 Jahren vorgehalten habe, als sie mit ihrem Freund, einem Altstudenten, der Pizza ausfuhr, bei ihm auf dem Sofa lag und Micky-Maus-Hefte las.
Du hängst herum. Lies was Vernünftiges.
Ihre Arbeit an der Frankfurter Börse konnte er als eine Rache an sich, dem Vater, seinen Mahnungen deuten: Unternimm was, häng nicht herum, lass dich nicht gehen. Das waren auch Ermahnungen an den vorgealterten Studenten mit seinem schütteren Haar, das er zum Pferdeschwanz zusammengebunden trug, damit man nicht von einer Schamhaarmatte sprechen konnte. Auch dieser junge Mann hatte eine gelassene Haltung, und er hatte, im Gegensatz zu ihr, wohl auch jetzt noch, keine von Anstrengung und Müdigkeit gezeichneten Augen. Allerdings fuhr er, wie er von ihr gehört hatte, immer noch Pizza aus.
Ich habe diese Haltung erst mit Mitte Fünfzig durch eine Pleite gewonnen, sagte er laut zu sich selbst.
Ja, jetzt hing er selbst herum. Und Sabrina hatte sich das in ihrer wilden Zeit eingestochene Tattoo, einen Pegasus, der ihr über die Brust flog, wieder weglasern lassen. Für dieses Kunstwerk war sie zu einem Tattoo-Guru nach Amsterdam gereist, der einmal im Jahr aus Japan kam und die Tattoos mit einem Haifischzahn stach. Ob sie auch das Tribal über ihrem Hintern gelöscht hatte, mochte er gar nicht fragen. Und in diesem Nicht-fragen-Können war etwas von seiner Liebe.
Wie geht es Mutti?
Gut.
Das war der letzte Rest von Familie, das alberne Mutti, das aus der Zeit der Gemeinsamkeit in die Gegenwart hereinreichte.
Er hatte sie gefragt, ob sie die Großeltern besucht habe. Nein, das letzte Mal habe ihr für dieses Jahr gereicht. Da sei der Opi, wie sie das
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