Vogelweide: Roman (German Edition)
aufwärts. Gefragt wurde, mit wie vielen Frauen/Männern haben Sie, hast du geschlafen? In welcher Position ziehen Sie den Geschlechtsakt vor? A Tergo? Reit- oder Missionarsstellung? Schuhgröße?
Das ist die Konsumforschung.
Nein, sagte der englische Freund, so eng würde ich das nicht sehen. Ob du nun die Frau in der Bar, die zufällig neben dir steht, anbaggerst und dabei ihre Schuhe taxierst oder eine Suchmeldung aufgibst, ist doch nur ein gradueller Unterschied.
Graduell? Nein. Dann ist doch alles vorweggenommen, was sonst die spannende Entdeckung der ersten Wochen und Monate ist. Es ist ja mehr, Bewegung, Mimik, Haut, vor allem auch Geruch, das Lachen, die Winzigkeit der Veränderung, und wenn sich das alles trifft in dem Ja, dann hilft das weit besser über die später nicht zugedrehten Zahnpastatuben, die herumliegenden Socken, die Momente, wenn der eine Lust hat und der andere nicht, über all das hinweg als die Schuhgröße, das Gewicht, die Lieblingsgerichte und Lieblingsbücher. Jedenfalls eine Zeitlang. Das Glück des Augenblicks, sage ich, das Zugreifen, der Kairos, verstehst du, das ist Teil der Paargeschichte, der Fehler wie des Geglückten, das ist die Energie, die in kalten Zeiten wärmt, Streit und Enttäuschung und den gewöhnlichen Alltag lebbar macht. Und warum? Weil man sich getraut hat. Hier, das ist die Suchmaschine, und das andere ist das Hier im Jetzt, das Sich-offen-Halten für den entscheidenden Moment.
Meine Güte, sagte der Freund, du redest wie ein Telefonseelsorger. Kairos, Zufall, das hört sich sehr nach gestern an. Begegnungen sind so zufällig wie die Ergebnisse der Suchmaschinen.
Nein. Normalerweise ist die Anziehung doch weit vor allem, was man vom anderen weiß. Jetzt ist das Wissen – und man weiß fast alles – dem Begehren voraus. Ein Warenkatalog, der auch den Sucher zum Konsumenten macht. Eine Art Otto-Versand.
Der Freund lachte.
Reduktion des Zufalls. Ordnungssysteme versus Chaos. Hast du doch früher auch daran gearbeitet.
Nicht an der Planung der Liebe.
Hm, hm, grunzte es aus dem Hörer. Erst trittst du aus der Kirche aus und dann aus der Software. Du bist ein habitueller Protestant.
Hör zu! Ich habe eine Matchmaking-Expertin bei einer Partnerbörse befragt, die nicht ihre Daten verraten wollte, welche die Norne natürlich gern gewusst hätte. Betriebsgeheimnis, hieß es. Es ist wie beim Coca-Cola-Rezept. Die Matchmaking-Frau sagte, es würden sogar die Neurotizismen gemessen.
Good heavens!
Sie arbeiten mit Leuten von der Neuropsychiatrie zusammen.
Aus dem Hörer kam abermals ein Grunzen.
Gut, gut, habe ich gesagt, aber kann man fragen, wie halten Sie es mit dem Abwasch? Bringen Sie den Abfall jeden Abend vor die Tür? Wie lange duschen Sie morgens?
Selbstverständlich.
Kann man den anderen riechen.
Natürlich nicht im Netz. Aber wir fragen nach der Vorliebe für Gerüche, für Parfums.
Kann man fragen, wann sind Sie traurig, wann verzweifelt, ganz zu schweigen von dem In-sich-Zusammensinken, dem Nicht-mehr-ein-noch-aus-Wissen? Den tiefen Selbstzweifeln?
Da hat sie einen Augenblick geschwiegen und offenbar richtig nachgedacht, das erste Mal in dem Gespräch, und dann kam das heraus: Man misst die positiven Grundeinstellungen.
Und das, was inkommensurabel ist, der dunkle Flügelschlag?
Warum nicht gleich erfahren, was man sonst langsam erfährt?, hatte die Matchmaking-Expertin gesagt.
Weil der Verlauf dieser Erkenntnisse selbst zur Geschichte der Beziehung gehört. Ihr Reichtum ist. Ihre Hoffnung.
Und da sprach diese Dame ein wahres Wort gelassen aus: Weil die Beziehungen gar nicht mehr so auf Dauer angelegt sind. Sie sind – man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen – transitorisch geworden, also wie eine Art Rechnungsabgrenzungsposten aus der Buchführung.
Der Freund hatte abermals gelacht und gesagt: Du wirst langsam zum Zeloten. Dir sitzt der Jonas im Genick.
Mitunter begegnete Eschenbach im Treppenhaus einem jungen Mann, der im zweiten Stock wohnte und offensichtlich nicht regelmäßig zur Arbeit gehen musste, ein Riese mit einem erstaunlichen Bauchumfang, der eine rot-weiß gestreifte Pluderhose und, als wolle er die Ähnlichkeit zu Obelix verstärken, die schütteren blonden Haare zu zwei kleinen Zöpfen geflochten trug. Wie Eschenbach von dem Nichts-für-Ungut erfuhr, war er von Beruf Zauberer und trat in Kindergärten auf.
Einmal, als ein Aushang in dem nahen Supermarkt seinen Auftritt am Körnerpark ankündigte, hatte er
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