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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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Monstern Kleider und Helme abgenommen hatte, hatte sich gezeigt, dass sie nur verkleidete Männer gewesen waren. Braven hatte ihnen die Köpfe abschlagen lassen, sie auf Spieße gesteckt und sie vor seinen Männern herumgetragen, die sie freudig angespuckt hatten.
    Doch die Neuigkeit hatte die Moral der Truppen nicht gehoben. Nachdem die Männer aus Reynes gelacht, getrunken und über die List der Barbaren gespottet hatten, war ihnen etwas aufgefallen: Es war kein großer Trost, dass die Sakâs keine übernatürliche Hilfe hatten. Denn die Sakâs gewannen. Sie fegten alles beiseite, was ihnen
im Weg stand, und die Soldaten aus Reynes konnten dafür noch nicht einmal mehr die Macht der Abgründe verantwortlich machen.
    Nur sich selbst.
    Am Abend war Rehal bei einem Reiterangriff umgerissen worden und hatte es nur einem Wunder zu verdanken, dass er von den Hufen nicht in Stücke getreten worden war. Als er mit Schmerzen in Brust und Knöchel wieder aufgestanden war, war er aufs Geratewohl vorwärtsgestolpert und hatte nur einen blutigen Nebel vor Augen gesehen, bevor er auf die Knie gefallen war und sich übergeben hatte.
    Am folgenden Tag war Dravos - der Einzige aus ihrem Fali , der außer Rehal bis hierhin überlebt hatte - an die Westfront geschickt worden, um in Gilas es Maras’ Armee als Späher zu dienen. An Gilas’ Seite kämpften Manaîn, der Neffe des Emirs, und die Armee von Harabec.
    Rehal meldete sich freiwillig, um ihn zu begleiten.
    Sechs Tage lang waren sie durch verwüstete Landstriche geritten und unendlich langen Flüchtlingsströmen begegnet, die alle nach Reynes wollten. Rehal hatte Zeit zum Nachdenken gehabt. Er hatte sich seine Ungeschicklichkeit, seine Feigheit und sein Pech vorgeworfen, im Geiste die Ereignisse der zwei Schlachten noch einmal durchgespielt und versucht, seine Fehler zu verstehen.
    Neuer Auftrag, Neuanfang, das hatte er sich geschworen. Wenigstens gab es im Westen weniger Schlamm.
    Am Abend ihrer Ankunft hatte einer von Gilas’ Leutnants sie auf Patrouille geschickt. Dravos, Rehal und acht weitere Männer waren durch Wälder und Wiesen zum Bergkamm des Nordwestbogens des Großen Kreises geschickt worden.

    Sie hatten sich sehr vorsichtig vorwärtsbewegt, aber der belebende Geruch des Waldes und das helle Himmelslicht hatten Rehal getröstet. Das war der Neuanfang, von dem er geträumt hatte.
    Jetzt endlich hatten sie den Waldrand erreicht. Sie waren stundenlang langsam den Westhang des Großen Kreises hinaufgestiegen, aber jetzt begann das Gelände sanft, beinahe unmerklich abzufallen. Es war unmöglich, mehr als eine Drittelmeile weit zu sehen. Haine, Hecken und Zäune nahmen ihnen die Sicht auf den Horizont.
    Sie waren jetzt in gefährlichem Gebiet und entschlossen sich, doppelt vorsichtig zu sein. Sie schickten jeweils einen Späher voraus. Der Mann drang hundertfünfzig Schritt vor und ahmte dann, wenn er die Umgebung in Augenschein genommen hatte, drei Mal den Schrei des Parinas nach, um den anderen zu verkünden, dass sie zu ihm stoßen konnten. Fünf Mal gelang das ungehindert. Rehal, der als Sechster ging, erreichte den Grat.
    Er hatte einen Hain aus Eichen, Ahorn und Brombeeren, die um einen kleinen Tümpel wuchsen, durchquert und schob gerade Dornenranken beiseite, als der Boden plötzlich unter seinen Füßen steil abfiel und er beinahe stürzte; er hielt sich an einem Ast fest und konnte, indem er einen Schritt zurückmachte, gerade noch das Gleichgewicht halten.
    Vor ihm lag der Abgrund.
    Wiesen, Bäume und Wege endeten abrupt an einer Klippe aus brüchigen Kreidefelsen, die zweihundert Fuß tief in die von Taleinschnitten durchzogene Ebene abfielen, in der vor Jahrtausenden der Grundstein von Reynes gelegt worden war. Wenn Rehal einen günstigeren Aussichtspunkt gehabt hätte, hätte er im Südosten die Silhouette
des höchsten Turms der Stadt und die abgerundeten Formen ihrer dreizehn Hügel sehen können.
    Aber Rehal hatte keine so gute Sicht, und etwas anderes hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen: die vier langen Heerwürmer der Sakâs, die unten langsam vorrückten.
    Von so weit oben aus gesehen - vom Grat des Großen Kreises, der seit so vielen Jahrhunderten die Stadt schützte - wirkte der Feind nicht menschlich. Rehal holte tief Atem und bemühte sich, sein klopfendes Herz zu beruhigen. Nein, dort unten marschierten keine Männer, keine Armeen, sondern nur vier gewaltige, düstere Würmer, vier dunkle, bewegliche Flecken, die sich wie Schlangen

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