Volk der Verbannten
Gefahr.«
»Das verspreche ich dir.«
Arekh trat zwei Schritte auf die Tür zu, drehte sich dann um und musterte Marikani. Er wartete. Auf eine Geste, ein Wort. Die junge Frau sah schweigend zu Boden. Dann wandte sie sich ab.
Arekh hob den Teppich und ging.
Der Rauch der Opfer im Ayesha-Tempel stieg in die Nacht auf. Das Feuer prasselte und tauchte Non’iamas Gesicht und Hände in purpurnes und goldenes Licht. Das Mädchen stand mit blau bemaltem Gesicht und Tigermaske auf dem Altar. Zwei- oder dreihundert Menschen hatten sich versammelt, um sie sprechen zu hören.
»Hâman Ayesha! Hâman Ayesha!«, schrie Non’iama und schlug sich auf die Brust.
Die Menge ringsum wiederholte: »Ayesha!«
Die Kleine lachte frei heraus, und die Menge lachte mit ihr. Dann hob sie die Hände und rief: »Ich habe den König der Sakâs gesehen! Ich hatte die Vision!«
»Die Vision! Die Vision!«, wiederholten die Umstehenden, und Non’iama begann, sich lachend und tanzend um sich selbst zu drehen. Wie ihre Bewunderer skandierte sie: »Die Vision! Die Vision!«
Dann blieb sie stehen, stolperte, schaffte es, auf den Beinen zu bleiben, und strauchelte erneut. Sie schmunzelte über ihre Ungeschicklichkeit, schloss die Augen und hob die Hand.
Um sie herum wurde es still. »Die Sterne bewegen sich am Himmel im Tanz der Zerstörung«, sagte Non’iama mit geschlossenen Augen. Unterdrücktes Gemurmel durchlief die Menge. »Die Kräfte vereinen sich, und ich spüre …« Die Zuschauer unterhalb des Altars hielten den Atem an. »Ich spüre in mir, in der Erde und im Himmel den Ruf des Ozeans …«
Die Menge brach in Beifallsrufe aus, und Marikani, die sich hinter den Säulen eines Pavillons unauffällig herangeschlichen hatte, konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als sie Hannaï und die anderen »Priesterinnen« mit vor Eifersucht verzerrten Gesichtern neben dem Altar stehen
sah. Lionor saß etwas abseits auf einer Marmorbank. Ihr Gesicht zeigte den abwesenden Ausdruck, den es seit dem Tod ihres Kindes stets gehabt hatte.
Marikani näherte sich ihr, musterte sie einen Moment lang und setzte sich dann neben sie. »Non’iama hat schauspielerische Begabung«, sagte sie, aber Lionor wandte nicht den Kopf. »Sie wickelt die Menge um den Finger wie ein echter Erashi . Sieh dir nur die anderen an!«, fuhr sie fort, legte Lionor eine Hand auf die Schulter und deutete auf die Priesterinnen. »Sie kommen fast um vor Eifersucht.«
»›Die Kräfte vereinen sich‹«, wiederholte Lionor. »Göttliche oder irdische Kräfte? Die des Schicksals oder die der Armeen?«
Marikani zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung! Du weißt doch, religiöse Reden müssen vage genug sein, um tiefgründig zu erscheinen. Und die Kleine scheint das perfekt zu beherrschen. Oh, sie ist schlau, sie wird es noch weit bringen.«
Lionor drehte sich um, und das Leuchten, das in ihren Augen stand, ließ Marikani erschauern. »Non’iama trägt das Ayesha-Feuer in sich. Sie hat die Sehergabe.«
Marikani sah ihre Freundin erschüttert an. Drüben beim Altar jubelte die Menge noch immer, während Non’iama einen neuen Tanz begann. »Lionor …«
Lionor musterte Marikani. »Sie hat das Ayesha-Feuer.«
»Lionor. Was redest du da? Ayesha ist nicht …«
»Sei still!«, sagte Lionor, sprang auf die Füße und baute sich vor Marikani auf. Das offene Haar fiel ihr über die Schultern und verlieh ihr ein wildes, mystisches Aussehen. »Du darfst nicht leugnen! In dir gehen Dinge vor, die du noch nicht einmal bemerkst!«
»Ja, ich habe Hunger, bin müde, und die Füße tun mir in diesen dummen Ledersandalen weh. Und vom Rauch dieser Altäre wird mir schlecht. Lionor, bitte …«
»Ich habe nachgedacht. Nach dem Tod meines … Ich habe seitdem viel nachgedacht«, flüsterte Lionor. »Ich habe mir Fragen gestellt. Du weißt schon, ich wollte wissen, warum.«
»Warum was?«
»Warum mein Sohn? Warum all diese Toten? Warum all dies unnötige Leid?«, sagte Lionor, und ihre Stimme wurde schrill, so dass sie die Aufmerksamkeit einiger Zuschauer erregte.
Marikani wandte den Blick ab, um nicht erkannt zu werden. »Weil Krieg herrscht«, flüsterte sie, als sie wieder zum Altar hinübersahen. »Weil die Menschen verrückt sind.«
»Nein«, sagte Lionor und schüttelte den Kopf. »Es gibt einen größeren Plan. Und man müsste blind sein, um das nicht zu sehen. Du glaubst nicht, du willst nicht glauben, du weißt nicht, was du bist und wofür du stehst, aber wir - wir
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