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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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Keller gehört hatte? Vielleicht waren das nur Soldaten aus Reynes, die die Abwasserkanäle verbarrikadierten. Im Untergrund von Reynes befand sich, wie man sagte, ein wahres Labyrinth: Es gab viele vergessene Gänge, die nicht auf Karten verzeichnet waren. Gänge, die aus dem Alten Kaiserreich oder aus noch früherer Zeit stammten, die nur in uraltem Archivmaterial auftauchten, das allenfalls die ältesten Gelehrten noch kannten …
    Man erzählte sich, dass der König der Sakâs in Reynes studiert hätte.
    Das Gerücht war in den vergangenen Tagen aufgetaucht und hatte sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet. Vashni spürte, wie ihr kalt wurde. Natürlich war es lächerlich, so rasche und absurde Schlussfolgerungen zu ziehen …
    Dennoch ging sie auf das Gebäude zu.
    Um die Tür zum Wirtschaftstrakt zu erreichen, musste man drei kleine Steinstufen hinaufsteigen. Oben angekommen versuchte Vashni, die Tür aufzustoßen. Sie war abgesperrt. Doch das Schloss wirkte nicht sehr stabil, und mit zitternder Hand zog die junge Frau den Dolch aus dem Gürtel. Es war ein Dolch, über den jeder außer ihr gelacht hätte: Die Klinge war lächerlich schmal und verziert, und die Edelsteine, die in den Griff eingelassen waren, drangen einem in die Haut, wenn man zu fest zupackte. Aber er war die einzige Waffe, die Vashni besaß. Gewöhnlich ließ sie den Dolch auf dem Nachttisch liegen,
aber heute Morgen hatte sie ihn mitgenommen, als sie aufgestanden war.
    Sie schob die Klinge zwischen Türstock und Wand, und das Holz gab sofort nach. Die Tür öffnete sich, und Vashni betrat das Haus.
    Auf den Treppenstufen, die in den ersten Stock führten, hockten vier Personen.
    Ein altes Dienerpaar und zwei Kinder. Sie saßen reglos und sehr aufrecht da und wirkten verängstigt; ihre Kleider waren ein wenig abgetragen.
    Ihre Blicke waren starr auf eine kleine, halb geöffnete Tür gerichtet. Dahinter führte eine schmale Treppe in den Boden.
    »Der Keller?«, fragte Vashni, und obwohl er starr vor Entsetzen war, gelang es dem alten Diener zu nicken.
    Die Schläge waren nun ohrenbetäubend, und unten, im Keller, zerbrach irgendetwas - vielleicht eine Wand. Die Kinder verkrampften sich, aber anscheinend hatte die Angst sie ebenso wie das alte Paar unfähig gemacht, sich zu rühren oder zu sprechen.
    Raue Stimmen erklangen im Keller; Befehle und das Klirren von Metall folgten.
    Vashni raffte ihren ganzen Mut zusammen, umklammerte ihren Dolch so fest, dass es wehtat, öffnete die kleine Tür und stieg vier Stufen hinunter. Langsam bückte sie sich, um besser sehen zu können.
    Einen Herzschlag später war sie wieder hinaufgestiegen. »Raus hier!«, schrie sie den alten Dienern zu, die sie zitternd anstarrten, ohne sich auch nur einen Fingerbreit zu rühren. »Raus!«
    Sie riss die Tür zum Hof schwungvoll auf und rannte auf die Stadtmauer zu. »Alarm!«, schrie sie und winkte
den Soldaten oben auf dem Wehrgang verzweifelt zu. »Die Sakâs! Die Sakâs sind im Keller!«
    Der Satz klang in ihren Ohren lächerlich, aber sie schrie weiter. Die Soldaten reagierten sofort. Befehle erklangen, und die Soldaten begannen, die Treppen hinabzustürmen. Hinter Vashni ertönte im Haus ein Kinderschrei.
    Sie waren nicht geflohen. Gelähmt vor Furcht waren diese Schwachköpfe nicht geflohen!
    Vashni zögerte, ihren lächerlichen Dolch in der Hand.
    Dann umklammerte sie die Waffe und stieg die drei Stufen wieder hinauf, die in die Wirtschaftsräume führten.
     
    Marikani sah, wie die Armeen sich auf die Stadt stürzten, als wollten sie sie verschlingen.
    In der Nacht hatte das Schauspiel nicht einer gewissen Schönheit entbehrt. Am Tag war es unheimlich.
    Ohne die Lichter und den zärtlichen Schleier der Dunkelheit wurde der Krieg auf seine primitivste Ausdrucksform zurückgeführt: Horden von Menschen, die aufeinander zustürmten, um sich gegenseitig zu töten.
    Die Kämpfe hatten ohne erkennbaren Grund vor einer Stunde wieder begonnen. Rauch stieg im Innern der Stadt im Nordwestviertel auf. Gebäude brannten - sicher in mehreren Straßen. Die Verteidiger des Großen Tors wurden von der Zahl ihrer Feinde fast verschluckt, und im Westen, wo sich Harrakin befand, sah Marikani nur eine wogende Menschenmenge.
    Bara trat an sie heran, und sie drehte sich um.
    »Es sieht schlecht aus«, sagte sie.
    »Wollt Ihr, dass wir mit dem Angriff beginnen?«
    Marikani schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie beobachtete
einen Moment lang das Schauspiel, bevor sie hinzufügte:

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