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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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hatte Harabec angeblich vor sechshundert Jahren in einer entscheidenden Schlacht gerettet. Aber weder Harrakins Vorfahren noch er selbst waren seitdem je das Risiko eingegangen, das Arrethasfeuer einzusetzen.
    Und heute war auch nicht der rechte Augenblick. Der Feind war stark, und jeder Mann war kostbar. Ohnehin war es besser, manche Legenden nicht auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.
    Die Reiter aus Harabec schlugen mutig auf die Feinde ein; durch den Staub und das Pfeifen war es schwierig, zu sehen, wer die Oberhand hatte. Harrakin richtete sich auf, holte tief Atem und machte dann einige Bewegungen, um die Muskeln seines rechten Arms zu entspannen. Sein linker Arm war fast völlig taub. Gleichgültig! Er musste zurück. Zorn, Euphorie und Blutdurst hatten ihn noch nicht verlassen, und er hatte das Bedürfnis, seine Klinge ins Fleisch dieser Barbaren zu rammen - denn nur das waren sie aus der Nähe betrachtet, Barbaren mit Umhängen -, die es wagten, sich der Furcht als Waffe zu bedienen.
    Barbaren. Hier, mitten im Emirat. Die Armeen der Abgründe, wie die Priester sie mittlerweile überall in den Königreichen nannten … Östlich der Berge, mindestens zwanzig Meilen im Landesinnern. Jetzt war keine Zeit,
darüber nachzudenken - Harrakin würde sich später Gedanken über die Bedeutung dieses Angriffs machen. Jetzt musste er sich erst einmal aufs Überleben konzentrieren. Aber sein Verstand gehorchte nicht allein der Vernunft, und seine Gedanken schweiften einen Moment lang ab, getrieben von beißender Besorgnis. So weit von den Bergen entfernt, tief im Innern der Königreiche, in zivilisierten Gebieten … Achtzig feindliche Reiter? Ohne dass irgendjemand es mitbekommen hatte? Was taten sie hier? Waren noch weitere da? Wo? Wann waren sie gekommen?
    Als sei er von diesen Überlegungen geweckt worden, übermannte ihn der Schmerz; er strahlte von der Schulter bis in den Oberkörper aus. Harrakin hatte zu lange nachgedacht. Seine Energie ließ nach, und er spürte, wie eine Welle der Mutlosigkeit über ihn hinwegbrandete. Natürlich waren da noch die Fußsoldaten und Armbrustschützen, aber er hatte nur dreißig Reiter gegen achtzig … Sie hatten keine Chance.
    Aber wenigstens hatten sie gekämpft, statt sich wie Feiglinge starr vor Entsetzen niedermähen zu lassen.
    Das Pfeifen kam zum Erliegen.
    Harrakin hob den Blick zu den Klippen. Fünf Soldaten in den weithin sichtbaren, leuchtenden Farben Harabecs standen auf einem Felsgrat und vollführten eine Siegesgeste. Drei von ihnen trugen mit ausgestreckten Armen etwas, das von unten schwer zu erkennen war, wie eine Trophäe … sicher eine Art Musikinstrument.
    Und plötzlich war alles wieder normal.
    Ohne die andersweltliche Musik, die der Szene solch eine unwirkliche Atmosphäre verliehen hatte, war der Kampf nur noch ein Kampf, der Hinterhalt ein Hinterhalt
und die »Kreatur des Chaos« dahinten inmitten des Kampfes erinnerte ganz entschieden an eine in schwarze Lumpen gehüllte Vogelscheuche. Der Schmerz ließ nach, Harrakins Vernunft kehrte zurück, das Schlachtfeld war nicht mehr der Ort einer angekündigten Niederlage, sondern ein Spielbrett, auf dem es, wie in allen Kriegen, genügte, die richtigen Figuren zu verschieben …
    Er trieb sein Pferd zum Galopp und sprengte an die Kampflinie. »Murufersöhne! Zurück! Teilt euch in zwei Gruppen!«, schrie er, sobald der Hauptmann in Hörweite war. »Nehmt ihre rechte Flanke in die Zange, treibt sie von unseren Reitern weg! Zielt auf die Beine der Pferde! Kümmert euch nicht um die Männer, haut die Tiere nieder! Rückt einfach geradeaus vor und schneidet so viele Kniesehnen wie möglich durch! Los!«
    Die Armbrustschützen rückten in »Krebsformation« vor, schossen, machten vier Schritte nach vorn und luden dabei nach, schossen dann erneut …
    Arrethas, schütze deine Söhne , dachte Harrakin und betete damit vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben von ganzem Herzen. Wenn dein Blick auf uns ruht und du über das Königshaus von Harabec wachst, ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, es zu zeigen!
    »Der Sieg ist unser!«, schrie er dann so laut er konnte mit hochgerecktem Schwert und schüttelte das lange Haar, das ihm über die Schultern fiel, mit betont theatralischer Gebärde. Je tapferer und stolzer ein Kriegsherr sich gab, desto tapferer und stolzer waren seine Soldaten. »Zögert nicht länger! Sie sind viele, aber sie weichen bereits zurück … Eine letzte Anstrengung, dann schlagen wir sie in die

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