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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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der Toten, die in so kurzer Zeit gefallen waren …
    Er verstand.
    »Erlaubt, dass ich Euch zu Eurem Zelt führe, Herr«, versuchte Samia es erneut. »Der Wundarzt wird den Bolzen entfernen.«
    »Nein. Ich will erst die Gefangenen befragen«, sagte Harrakin trocken und schritt an Samia und den Zofen vorbei, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Die Euphorie, die ihn im Kampf beseelt hatte, war plötzlich verschwunden.

    Es war schwer zu sagen, warum die junge Frau ihn derart gereizt machte. Sie spielte ihre Rolle gut: die der zärtlichen Konkubine des Königs, die sich um die Gesundheit des Mannes sorgte, den sie liebte. Aber vielleicht war es gerade das: Es wirkte zu aufgesetzt. Alles, was Samia tut, wirkt gezwungen , dachte Harrakin verärgert. Man hätte glauben können, dass sie das Textbuch eines Theaterstücks mit dem Titel »Leben einer Konkubine am Hofe von Harabec« gefunden und alle Antworten und Gesten auswendig gelernt hatte, um sie zu gegebener Zeit zum Einsatz zu bringen.
    Harrakin hatte beinahe schon Titel für ihr jeweiliges Gebaren: »Samia spielt die Schamhaftigkeit«, »Samia spielt die Liebe«, »Samia spielt die Hemmungslosigkeit«, »Samia spielt die Reue«, »Samia spielt die Besorgnis«, »Samia spielt die Frau, die bei dem Gedanken, schwanger zu sein, ganz verklärt wirkt«.
    Vor allem wird Samia alles tun, um sich meine Gunst zu erhalten , dachte er mit einer etwas ungerechten Verachtung - wie konnte er ihr das zum Vorwurf machen? War es nicht mit allen bei Hofe so?
    Das war es. Und er hatte anderes zu bedenken.
    Das Verhör der Gefangenen - die gab es im Überfluss, da noch immer Verwundete sterbend auf den Felsen lagen und mit weit aufgerissenen Augen den roten Stein anstarrten - erbrachte einiges.
    Es handelte sich wirklich um die Armee der Abgründe … Sie nannten sich »die Sakâs«. Sie hatten einen Häuptling, einen König, dessen Namen sie nicht nennen wollten.
    Die Hauptstreitmacht der Sakâs hatte ihr Lager an der Flanke der Berge aufgeschlagen, sie aber, anders als dieser Reitertrupp, noch nicht überschritten. Sie warteten jenseits
des Bergkamms an der Grenze zwischen den beiden Regionen.
    Die Gefangenen weigerten sich entweder rundheraus, zu verraten, wie groß ihre Armee war, oder machten widersprüchliche Angaben. Wahrscheinlich kannten sie die Wahrheit ohnehin nicht. Die meisten von ihnen konnten noch nicht einmal zählen.
    Was die Gründe für diesen Hinterhalt anging - die Gründe dafür, dass die Sakâs diese achtzig Mann mitten in die Königreiche geschickt hatten, während die übrigen an der Grenze des Alten Kaiserreichs warteten -, so wussten die Gefangenen nichts darüber oder lehnten es ab zu reden. Die Soldaten aus Harabec hatten weder das Talent noch die Zeit, sie ausgefeilten Folterungen zu unterziehen, um sie zum Sprechen zu bringen.
    Aber Harrakin verstand. Nach dem fünfzehnten Verhör erlaubten es ihm die bruchstückhaften Antworten, die er erhalten hatte, das ganze Bild zusammenzusetzen. Es ging um eine Art … Experiment. Einen Versuch. Der König der Sakâs hatte sie hierhergeschickt, um herauszufinden, was geschehen würde, wie schnell die Reiter bemerkt werden würden, ob sie in der Lage waren, gegen die erstbesten Feinde zu bestehen, auf die sie trafen.
    Der König der Sakâs erprobte seine Männer und die Kräfte seiner Feinde.
    Der Osten mit seinen gewaltigen Reichtümern und seinen zum Greifen nahen Städten war für diesen Mann, der sicher bisher nur die wilden Berge des Nordens und die primitiven Wüstenkönigreiche kennengelernt hatte, ein unbekanntes Gebiet. Darüber dachte Harrakin nach, während er zusah, wie seine Männer die Gefangenen töteten, nachdem das Verhör vorüber war. Der Osten … das
Herzland der Königreiche … die Zivilisation … Das war etwas ganz anderes. Der König der Sakâs musste sich fragen, ob diese verlockenden Landstriche für ihn in Reichweite lagen oder nicht. Er zögerte. Er schickte Männer vor, opferte sie, um zu sehen, was ihnen zustoßen würde.
    Dann würde er eine Entscheidung treffen.
     
    »Aber Ihr habt sie doch besiegt, mein tapferer Geliebter!«, sagte Samia am Abend im Zelt, während sie Harrakins nackten Körper mit parfümiertem Salböl aus Amaura massierte. »Wenn dieser Mann … also dieser König … wenn er wissen wollte, ob seine Männer uns das Wasser reichen können … Nun, dann habt Ihr ihm doch gerade das Gegenteil bewiesen, nicht wahr?«
    Harrakin schwieg einen Moment lang,

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