Volk der Verbannten
Tunneln, in denen Lionor, Arekh, Mîn und sie tagelang umhergeirrt waren, bevor sie das Sonnenlicht wiedergesehen hatten. Die Spuren einer fremden Zivilisation, auf die sie dort gestoßen waren, hatten Marikani zugleich fasziniert und erschreckt. In Stein gehauene Löwengesichter, lachend, brüllend, weinend. Als sie das Labyrinth, in dem sie fast gestorben waren, verlassen hatten, hatte sie sich geschworen, in ruhigeren Zeiten mit den größten Historikern der Hauptstadt dorthin zurückzukehren - vielleicht sogar mit dem Hohepriester von Harabec, der sich für antike Kunst begeisterte.
Natürlich war sie nie zurückgekehrt.
Doch die Gesichter der Raubkatzen waren nicht aus ihrer Erinnerung verschwunden. Sie dachte noch manchmal daran, als seien sie ein Symbol dafür, wie unendlich geheimnisvoll die Welt war. Aber sie waren noch nie in ihre Träume eingedrungen wie an jenem Abend.
In ihrem Traum war sie zwischen die Löwen gestürzt, und die steinernen Köpfe waren zum Leben erwacht. Sie hatten sie heiser ausgelacht, mit einem seltsamen Gebrüll, das eher nach Vogelschreien geklungen hatte. Dann hatten sich die Raubkatzen auf sie gestürzt und sie gefressen, aber sie hatte nicht gelitten: Sie hatte sich einfach neu erschaffen, wieder und wieder; sie hatte mehrere Körper gehabt, auch mehrere Gesichter, und bald hatte sie mit ihnen zu tanzen begonnen … Dann war alles verschwunden gewesen, und sie hatte sich allein am Strand wiedergefunden, vor dunklen Wellen, von denen ein Geruch
nach Salz, Algen und Sand ausgegangen war, der ihre Lunge ausgefüllt hatte wie ein Lockruf …
Sie hatte die Augen aufgeschlagen und in die Nacht gestarrt; ihre Müdigkeit war verflogen gewesen.
Sie hatte nachgedacht, während sie gespürt hatte, wie die Feuchtigkeit ihr in den Rücken gekrochen war und die kleinen Waldinsekten um sie herumgekrabbelt waren. Sie hatte den Atem der schlafenden Sklaven gehört, auch Baras regelmäßige Atemzüge; er hatte an einem Baum sitzend bei ihr gewacht. Ihr Verstand war so klar gewesen wie schon seit Tagen nicht mehr.
Das war die einzige Lösung. Sie konnten nicht so weitermachen - durch feindliche Lande irren, die Nahrung stehlen, die sie benötigten. Auch wenn es die Armeen, die sie eines Tages finden würden, nicht gegeben hätte, auch wenn sie die immer zahlreicheren Wachen nicht mit einberechneten, die Plünderungen immer schwieriger werden ließen - irgendwann würde es ganz einfach nichts mehr zu plündern geben. Die Wirtschaft der Königreiche war schon durch den Untergang der Westgebiete in Unordnung geraten, und nun kam auch noch der Zustrom von Flüchtlingen hinzu. Der Handel lag danieder. Ein Tier muss gesund sein, um seine Parasiten ernähren zu können , lautete ein bäuerliches Sprichwort. Die Königreiche waren nicht mehr gesund genug, ein ganzes Volk von Banditen zu ernähren, das nur stahl, aber nichts produzierte.
Wenn sie sich doch nur auf freiem Land hätten niederlassen können, um dort zu leben und Felder zu bestellen! Aber es gab kein freies Land, keine einzige Parzelle fruchtbaren Bodens, die nicht ihren Feinden gehörte. Ihre einzige Chance bestand darin, sich anderswo niederzulassen. Aber in den Königreichen gab es kein »anderswo«.
Nur jenseits des Ozeans. In den geheimnisvollen Ländern, aus denen das Türkisvolk vor dreitausend Jahren gekommen war.
Anderswo.
Jenseits des Meeres.
Marikanis Verstand hatte sich in jener Nacht weitergedreht, während sie immer noch ausgestreckt auf dem eisigen Boden gelegen hatte, der ihren Rücken schmerzen ließ. Eine Göttin, die Rückenschmerzen hatte - das hätte doch eine erbauliche Seite in einer religiösen Schrift abgeben können!
Um über das Meer zu gelangen, würden sie Schiffe brauchen: keine Boote, sondern gewaltige Schiffe, die hochseetauglich waren. Große Schiffe mit weißen Segeln, genug davon, um über tausend Männer, Frauen und Kinder zu transportieren, vielleicht sogar mehr, denn es würden sicher noch weitere kommen.
Im ersten Morgenlicht war sie aufgesprungen und hatte Bara in ihren Plan eingeweiht, wobei sie selbst über den Wahnsinn in ihren Worten gestaunt hatte. Sie hatte ihm von ihrem Traum von den Löwen erzählt, wie um ihren Anfall von Unvernunft zu rechtfertigen. Dann hatte sie gezögert, war fast errötet, hatte darauf gewartet, dass er ihr ins Gesicht lachen würde.
Aber Bara hatte nicht gelacht. Er hatte sie nicht für verrückt gehalten. Er hatte nicht gespottet, sondern sich darauf
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