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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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festzustellen. Er trug eine schwarze Leinenhose und Stiefel.
    Seine Hände waren rau und stark: die Hände eines Kriegers. Der Schwertgriff war nichtssagend, die Klinge abgenutzt, aber sehr gut geschärft.
    Marikani zuckte mit den Schultern. Die Müdigkeit dieses Tages und zu vieler Tage des Marschierens, des Kämpfens, des Schlafens auf eisigem Boden lastete auf einmal schwer auf ihren Schultern.
    »Er könnte wer auch immer sein«, flüsterte sie. »Er trägt nicht die Farben des Emirats, aber vielleicht war er ein Söldner.«
    Bara nickte. »Oder er stammt aus Kiranya. Der kleine König und der Emir haben sich sicher verbündet, um uns aufzuspüren.«
    Marikani nahm das Schwert an sich; dann zogen sie dem Leichnam zusammen das Kettenhemd aus und brachen wieder zum Lager auf.
    Im Gehen bemerkte Marikani, dass das Blut des Mannes ihr Hemd befleckt hatte. Sie strich mit den Fingern darüber und wunderte sich über ihre eigene Gleichgültigkeit. War sie noch dieselbe Frau wie vor zwei Jahren? Sie hatte alles erlebt, alles getan - vielleicht abgesehen davon, einen Unschuldigen mit eigener Hand zu töten.
    Sie wischte sich die blutigen Finger an der Hose ab und ging weiter.

     
    Zwei Stunden später waren sie wieder im Lager. In der Morgendämmerung setzte das Ayesha-Volk seinen Marsch fort.
    Dreißig Meilen nördlich der Freien Städte war das Klima noch eisiger. Sie waren nun über tausend Sklaven, Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge, die Marikani folgten und ihre Hoffnung nur auf sie setzten. Unter ihrer Führung marschierten sie Tag und Nacht an den Bergen entlang nach Norden, nach Kiranya, und hielten nur für kurze Ruhepausen an, wenn die Schwächsten erschöpft waren.
    Nach der ersten Plünderung hatte Marikani ihnen nur die Zeit gelassen, das Essen zu verteilen und eine Mahlzeit einzunehmen, bevor sie befohlen hatte, das Lager abzubrechen. Sie hatte schon in dem Moment gewusst, dass sie mit ihrer Tat den Königreichen den Krieg erklärt hatte.
    Der Emir, Harrakin und die Bürgermeister der Freien Städte würden alles tun, was in ihrer Macht stand, um sie so schnell wie möglich auszuschalten.
    Sie mussten fliehen.
    Sie mussten den Ozean erreichen.
    Den Ozean. Die Idee war Marikani am zwölften Tag ihrer Wanderung im Traum gekommen, als sie nach sechzehn Marschstunden erschöpft zwischen zwei Baumstümpfen zusammengesunken war. Um sie herum hatten sich die Familien wie eine Flut über einen Abhang verteilt, sich aneinandergedrängt, um sich vor der Feuchtigkeit zu schützen, die in alles eindrang. Sie hatten kein Feuer entzündet: Tausend Personen an einer Bergflanke waren auch dann, wenn sie vom dichten Grün der Wälder verdeckt wurden, nur zu sichtbar. Die wenigen Patrouillen,
die das Pech gehabt hatten, ihnen zu begegnen, waren gefangen genommen und erbarmungslos getötet worden.
    Bisher hatte es sich immer um Männer des Emirs gehandelt.
    Die von Marikani ausgewählten Späher, die auf dem Marsch den Himmel nach spionierenden Vögeln absuchten, hatten noch nichts gesehen.
    Ohne Zweifel glaubten diejenigen, die auf der Suche nach ihnen waren, dass sie die Berge wieder überquert hatten und in die westlichen Lande zurückgekehrt waren. Weder der Emir noch Harrakin konnten damit rechnen, dass Marikani vorhatte, über tausend aufständische Sklaven von Westen nach Osten quer durch die Königreiche bis ans Meer zu führen, durch Landstriche, in denen jeder Bewohner ein Feind war und jede Stadt, ja, jedes Dorf über eine Miliz verfügte, jedes Land über Soldaten. Jeder Fingerbreit Boden wurde überwacht und von seinem Besitzer eifersüchtig verteidigt.
    Doch genau das würden sie tun.
    Marikani hob den Blick. Die Ihren folgten ihr in einer unendlich langen Reihe wie eine Armee auf dem Rückweg aus dem Krieg - eine erschöpfte, unterernährte, zerlumpte Armee, die wahnsinnig genug war, die Wälder zu Fuß durchqueren zu wollen.
    Der Wald aber war ihre einzige Chance, die einzige Hoffnung, die sie hatten, so weit wie möglich nach Norden vorzudringen, um dann Kiranya zu durchqueren und ans Meer zu gelangen … den Ozean zu erreichen.
    Ja, dieser Wahn hatte sie eines Nachts überkommen - wenn man knapp vier Stunden Schlaf denn als »Nacht« bezeichnen konnte. An jenem Abend war die Bewusstlosigkeit
über Marikani zusammengeschlagen wie schwarzes Wasser. Sie hatte gerade erst den Kopf auf das Holz sinken lassen, als sie auch schon von Löwen geträumt hatte.
    Von in den Stein gehauenen Löwen - den Löwen in den

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