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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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beschränkt, sie mit seinen zu blauen Augen anzusehen. In seinem Blick hatte Marikani Entzücken, Verblüffung und Freude erkannt.
    »Ayesha sieht weiter, als man von den Gipfeln aus sehen kann, und ihr Blick trägt uns«, hatte er gehaucht.
    Froh, dass er sie verstanden hatte, froh, dass der erste
Mensch, dem sie von dieser verrückten Idee erzählte, sie nicht verworfen hatte, hatte Marikani vergessen, Bara zu bitten, das Geheimnis zu wahren. Das war ein Fehler gewesen. Drei Stunden später, als die Reihe der Sklaven ihren Marsch durch den Wald wieder aufgenommen hatte, in dem der feuchte, berauschende Geruch nach verfaulendem Laub die Lungen füllte und der nasse Boden einem die Füße eisig werden ließ, wussten bereits alle Bescheid. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Neuigkeit von Mund zu Mund, von Familie zu Familie verbreitet.
    Ayesha wird uns übers Meer führen.
    Ayesha wird uns ins gelobte Land bringen.
    Ayesha wird uns auf Schiffe geleiten, die durch schwarze Wellen gleiten werden …
    Der Gedanke hatte ihnen neuen Mut eingeflößt; die Mattigkeit ihrer schmerzenden Füße war verflogen. Der Traum hatte ihnen die Kraft verliehen weiterzuziehen.
    Und Marikani hatte verstanden. Obwohl sie ihnen keine Hoffnungen machen wollte, von denen sie genau wusste, wie aberwitzig sie waren, musste sie sich eingestehen, dass die Ihren vielleicht genau das brauchten: ein Ideal, eine Lüge, an die sie sich klammern konnten. Und sie hatte nicht den Mut gefunden, Bara sein Handeln vorzuwerfen, als er zurückgekehrt war, um an ihrer Seite zu wandern.
    Dort marschierte er noch heute, trotz der Müdigkeit, die er dem Ausflug vom Vorabend zu verdanken hatte.
    Marikani musterte ihn … musterte ihn wirklich, vielleicht zum ersten Mal. Der kurze Vorfall in der vergangenen Nacht, die Schnelligkeit und Könnerschaft, mit der er dem Mann die Kehle durchgeschnitten hatte, der sie
hatte vergewaltigen wollen, hatte ihren Blickwinkel auf ihn verändert.
    Bara war stark, und seine Muskeln waren trotz der schlechten Ernährung kräftig; sie spielten unter seiner leicht gebräunten Haut. Er war so stark, dass er Marikani mit einem Fausthieb hätte töten können. Er hätte sie mühelos misshandeln und vergewaltigen können - und dennoch folgte er ihr, gehorchte jedem noch so kleinen Befehl.
    Ohne Anweisung und ohne dass sie auch nur etwas abgemacht hätten, war er zu Marikanis Leibwächter geworden - zu ihrem Leutnant, Diener, Beschützer, Verehrer und Schatten.
    »Er schreitet im Licht Ayeshas«, hatte einer seiner Gefährten mit einer gewissen Eifersucht gesagt.
    Wie konnte er nur daran glauben? Wie konnte er denken, dass die zerbrechliche junge Frau an seiner Seite, die so rasch ermüdete, so leicht zu verletzen und so menschlich war, wie all die kleinen, alltäglichen Fährnisse bewiesen, die Göttin Ayesha war?
    Baras Intelligenz stand außer Frage - Marikani hatte sie viele Male unter Beweis gestellt gesehen. Die Weisheit des ehemaligen Sklaven sprach aus dem nachdenklichen Ausdruck seiner türkisfarbenen Augen, aus der Art, wie er seine Worte abwägte, bevor er sprach. Warum also? Der Glaube war etwas, was Marikani nicht nachvollziehen konnte, nie hatte nachvollziehen können. Das ging ihr noch heute so, da sie diejenige war, an die man glauben musste.
    Die Stunden vergingen; sie wanderten noch immer, wie sie es in den sechzehn endlosen vorangegangenen Tagen getan hatten. Wenn sie sich umsah, erblickte Marikani
nichts als eine lange Schlange aus Männern und Frauen, die sich zwischen den Bäumen verlor; sie hörte nichts als das Geräusch von nackten Füßen und Stiefeln, die auf den Boden trafen, das Klirren von Waffen, das Scheuern der Proviantsäcke an den langen Ästen, an denen sie befestigt waren, damit die Männer sie abwechselnd schleppen konnten.
    Nur selten hörte man Stimmen; die Erwachsenen sparten sich ihren Atem, um voranzukommen. Lediglich die klaren Stimmen der Kinder ertönten zuweilen in der reinen Luft.
    Die Schatten wurden länger, und sie wanderten noch immer. Der Himmel versank in Dunkelheit, und sie wanderten noch immer. Die Sterne erschienen, beleuchteten ihren Weg, das verschwommene blaue Leuchten des alten Sterns des Türkisvolkes überzuckerte wie eine Spur kostbaren Puders einen Teil der nächtlichen Kuppel. Bara hob die Augen zur Pracht des Firmaments, und Marikani las in seinem Blick die Antwort auf die Frage, die sie sich vor einigen Momenten gestellt hatte. Wie konnte er glauben? Es war falsch von ihr

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