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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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sich das gewaltige Labyrinth des Großen Marktes von Faez.
    Erst zwischen den Marktständen, wo ihr Gespräch vom fröhlichen Lärmen der Menge übertönt wurde und daher
von den Vahas nicht belauscht werden konnte, wagte Bara zu sprechen.
    Er beugte sich zu Marikani. »Die Stadt ist seltsam, Ay …« Er unterbrach sich. »Ehari. Man hat den Eindruck, dass … irgendetwas fehlt.«
    Marikani runzelte die Stirn. »Und was?«
    »Die Sklaven.«
    Bara hatte recht. Wie in allen Städten der Königreiche hatte es in Faez seit Jahrhunderten von Sklaven gewimmelt. In den Gärten, auf den Straßen, in den Läden, in den Tempeln. Sklaven, die Karren zogen, Wasser trugen, tausenderlei Botengänge für ihre Herren erledigten. Und wie überall in den Königreichen waren sie heute verschwunden.
    Wo waren sie? Wo waren die Überlebenden? Die Sklaven hier hatten sicher wie alle anderen am Tag des Großen Opfers rebelliert. Oder gab es vielleicht keine Überlebenden? Faez hatte nichts mit den wilden Landstrichen des Westens gemein, in denen Aufstände möglich waren. Die Armee des Emirs war sicher rings um die Altäre postiert und zum Eingreifen bereit gewesen.
    Wohin hatte man die Leichen gebracht? Man hatte sie bestimmt verbrannt …
    Marikani erschauerte, als sie sich den abscheulichen Geruch nach verbranntem Fleisch vorstellte, der über ganz Faez gelegen haben musste und gewiss erst nach Tagen wieder verschwunden war.
    In Faez wie überall sonst waren nicht alle Sklavenhalter herzlose Geschöpfe ohne Mitgefühl. Auch hier hatten Männer und Frauen sicher Abscheu und Reue unterdrücken müssen, als sie gespürt hatten, wie dieser fürchterliche Gestank ihnen in die Kehlen drang.

    »… und da sind die Verbannten, Ehari«, sagte Yassî Eh Mered.
    Marikani zuckte zusammen. Sie benötigte einen Augenblick, um in die Wirklichkeit zurückzukehren. Die Vorstellung war so heftig und brutal gewesen - dieses Massaker an Zehntausenden von Menschen, das erst vor einigen Wochen hier stattgefunden haben musste -, dass sie den scheußlichen Geruch fast selbst gerochen hatte.
    »Ist Euch kalt, Ehari?«, fragte der zweite Vahas freundlich; sein Blick ruhte noch immer eher auf ihrem Körper als auf ihrem Gesicht. »Soll ich Euch einen Schal kaufen? Es gibt hier sehr schöne«, fügte er hinzu und deutete auf einen Stand. »Wenn Ihr mir erlaubt, Euch einen zu schenken, werdet Ihr eine glückliche Erinnerung an unsere Stadt bewahren.«
    Bara warf dem Mann einen zornigen Blick zu, und Marikani schüttelte den Kopf, da sie spürte, dass Yassî Eh Mered sie beobachtete. Sie warf einen Blick in die Runde und konzentrierte sich auf die Umgebung: die Stände mit Fischen, Fleisch und Trockenfrüchten mit ihren Planen in verschiedenen Rottönen, auf die stilisierte Sonnen gestickt oder gemalt waren; die Stimmen, Schreie und Rufe der Marktschreier; das Rascheln von Leinen und Seide. Bildete sie es sich nur ein oder war alles langsamer, weniger geschäftig und weniger bunt als gewöhnlich? Faez war nicht mehr Faez, Faez war nur ein schwacher Abglanz seiner selbst, ein Faez, das nach dem Verschwinden der Sklaven weniger Einwohner hatte und durch den Verlust ihrer Arbeitskraft geschwächt war, ein Faez, in dem aufgrund der Kriegsgerüchte die Angst umging.
    »Der Markt wirkt heute ziemlich leer«, sagte sie zu den
Vahas, einfach um irgendetwas zu sagen; ihr Schweigen hätte verdächtig wirken können.
    »Die Unterbrechung der Handelsrouten nach Westen«, erklärte Yassî Eh Mered mit einer bedauernden Geste. »Wir haben Euch an Euer Ziel geführt, Ehari«, fügte er hinzu, indem er auf etwas zur Linken deutete. Marikani wandte sich in die bezeichnete Richtung und hielt nach den Kanälen Ausschau.
    Zuerst sah sie sie gar nicht. Es gab nichts als die Marktstände und die Gassen dazwischen. Manche Gassen waren vielleicht ein wenig breiter als die anderen … Und dann endlich sah sie das Wasser: Es floss in einem Labyrinth aus besonderen Kanälen im Boden, die kaum zwei Schritt breit und keinen Finger tief waren. Fast unsichtbare Wasserwege, die den Markt durchzogen, in jeden Durchgang drangen. Und in diesem Wasserlabyrinth, das ihnen erlaubte, die Schuhsohlen oder die nackten Füße im Wasser zu behalten, gingen die Verbannten umher.
    Die Illusion war vollkommen. Allein ein sehr geübtes Auge konnte erkennen, dass sie nur scheinbar zur Menge gehörten. Die Einwohner von Faez gingen herum, drehten sich um, blieben stehen, spazierten zwischen Marktständen hindurch

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