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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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ausholte, warf sie sich nicht zur Seite, wie jedes verängstigte Mädchen es getan hätte, sondern vorwärts.
    Sie schlüpfte zwischen Brus’ Beinen hindurch, biss ihm in die Körperteile, die ihn zum Mann machten, und riss ein großes Stück Fleisch heraus. Brus stieß einen animalischen Schrei aus. Obwohl die Sakâs sich als Krieger viel darauf einbildeten, Schmerzen ignorieren zu können, musste Nordos sich eingestehen, dass er an seiner Stelle das Gleiche getan hätte. Das kleine Mädchen nutzte die Gelegenheit, ihm das Messer in die Eingeweide zu rammen.
    Brus erstarrte und stürzte dann wie ein gefällter Baum. Doch trotz seiner Schmerzen und des nahenden Todes reagierte er wie ein Krieger und versetzte seiner Gegnerin einen Fausthieb, so dass sie stürzte. Er wälzte sich auf die
Kleine, die einen Schrei ausstieß - und dann erschlaffte sein Körper und entließ seinen Geist in die Ebenen des Faa-Mî.
    Nordos trat näher heran und setzte einen Fuß auf das Küchenmesser, das dem Kind aus der Hand gefallen war. Die Kleine war nun unbewaffnet und unter einem Leichnam eingezwängt.
    Nordos verstellte ihr den einzigen Ausweg aus dem alten Buchsbaumgang.
    Das kleine Mädchen stieß Brus’ Körper von sich und konnte sich befreien. Langsam kam sie auf die Beine.
    Nordos hob das Messer auf. Er hielt die Axt in der anderen Hand.
    Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne verschwanden hinter dem alten Tempel, und plötzlich erwachten die Sterne zum Leben. Die Nacht war kristallklar und wunderschön. Das bläuliche Leuchten des türkisfarbenen Sternenstaubs tauchte das Kind in ein unwirkliches Licht.
    Nordos hob die Axt und drang auf die Kleine ein. Er würde ihr einen ersten Schlag in die rechte Schulter versetzen, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen und ihr die Armsehnen zu durchtrennen. Sie würde zu Boden stürzen; dann würde er sie mit einem Hieb ins Genick töten.
    Er machte noch einen Schritt und sprach das Ahona des Kriegers, die Ankündigung des Todesstoßes.
    »Ayesha«, wiederholte das Kind und wies auf die Sterne. »Ich war da. Bei ihr. Ayesha schützt mich.«
    Nordos senkte die Axt.
     
    Marikani fuhr aus dem Schlaf hoch. Sie hatte geträumt, Arekh sei noch am Leben.

    Bara schlief friedlich an ihrer Seite. Sein nackter Schenkel lag an ihrem. Das Licht der Monde drang zwischen Marmorsäulen hindurch und spiegelte sich auf dem ruhigen Wasser des Sees. Draußen hielten zehn Mann vor dem alten Opferzimmer des Klosters Wache, das jetzt Ayeshas Schlafgemach war.
    Sie hatte geträumt, Arekh sei noch am Leben. Er schritt durch eine Höhle mit behauenen Steinen, und Raubkatzen umtanzten ihn. Er sah sie und lächelte … Und das beweist, dass es ein Traum war , dachte Marikani und setzte sich auf der Wollmatratze auf, die direkt auf dem Boden lag. Arekh hatte nie gelächelt. Oder fast nie. Zumindest hatte er sie niemals angelächelt.
    Einen Moment lang sah sie sich auf ihn zurennen, ihn küssen, wie die Bäuerinnen die Fürsten küssten, die sie aus ihren Dörfern holten, um sie zu heiraten, wie es in den albernen Geschichten geschah, an denen die Hofdamen in Harabec sich ergötzten. Dann brach ihr der kalte Schweiß aus. Wie konnte sie es wagen? Wie konnte sie es wagen, sich in romantischen Träumen über einen Mann zu ergehen, der ihretwegen unter unmenschlichen Qualen unter den Klingen der Henker der Seelenleser gestorben war?
    Der Mann, den sie liebte, und ihre beste Freundin … Sie hatte beide zum Tode verurteilt.
    Sie drehte sich zu Bara um.
    Er hatte die Augen geöffnet und sah sie an.
    Doch vor einem Moment hatte er noch geschlafen, davon war sie überzeugt. Aber seit er ihr Gefährte, ihr Schatten und ihr Liebhaber war, hatte Bara ein seltsames Talent entwickelt. Er spürte jede Stimmung, jedes Gefühl, das Marikani empfand, sogar dann, wenn sie
am anderen Ende des Lagers war, wenn sie nichts sagte oder wenn ihr Gesicht ausdruckslos war. Wie machte er das nur? Marikani wusste es nicht, aber Bara täuschte sich nie und wusste manchmal im Voraus so genau, was sie sagen würde, dass die junge Frau ihn wohl für einen Zauberer gehalten hätte, wenn sie an Magie geglaubt hätte.
    Bara setzte sich auf. Die dünne Leinendecke schmiegte sich an seinen Körper. Er hob die rechte Hand und streichelte Marikanis Gesicht. Dann küsste er sie - zärtlich und mit einer gewissen Furcht, als hätte er Angst, dass sein Glück nicht lange andauern würde, als wüsste er, dass er eines Tages, viel zu bald, verstoßen

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