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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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sie tat oder sagte, ihre Männer. Bara reichte ihr ein Hemd. Sie hätte sich entschließen können, einen Säugling zu stehlen und bei lebendigem Leib zu verspeisen; selbst wenn sie blutige Fleischbrocken aus ihm herausgebissen hätte, hätten sie nicht im Geringsten protestiert.
    »Achtzig Mann«, erklärte Haîk. »Soldaten aus Kiranya und Reynes. Sie kommen über den alten Pilgerweg.«
    Marikani nickte und streifte ihre Hose und das Kettenhemd über, das sie seit den ersten Waffenlieferungen der Verbannten trug.
    Der alte Pilgerweg führte nach Norden und hatte nur ein Ziel: das Themish-Kloster. Ihr Lager.
    Verschiedene Truppen durchstreiften das Land auf der Suche nach ihnen. Diese Soldaten kamen ihretwegen … Sie wussten natürlich noch nicht, dass sie geradewegs ins Schwarze treffen würden, sonst hätte man nicht nur achtzig Mann, sondern eine ganze Armee geschickt.
    »Sehr gut.« Marikani bückte sich, um ihre schweren Stiefel zuzuschnüren, und nahm dann das Schwert, das Bara ihr hinhielt. »Gehen wir. Day-Yans Abteilung. Und Farers. Über den Felspfad!«

     
    Der Boden war hart und steinig. Die Soldaten aus Kiranya und Reynes rückten in Fünferreihen über die Straße vor, die vor Jahrhunderten von den Mönchen gepflastert worden war, die ihr Leben Themish, einer der drei Töchter der Verella, geweiht hatten. Sie wirkten erschöpft. Übermüdung , dachte Marikani, die sie aus der Krone des knotigen, verkrümmten Baums beobachtete, auf den sie gestiegen war. Vielleicht auch mangelnde Motivation. Sie waren hier, ins Ödland des Nordens entsandt, während weiter südlich, an der Grenze der Fürstentümer von Reynes, das Schicksal der Königreiche ohne sie entschieden wurde. Was waren ihr Heldenmut oder ihre Feigheit in diesem verlorenen, bedeutungslosen Landstrich schon wert? Alles, was sie liebten, würde vielleicht bei ihrer Rückkehr verschwunden sein.
    Marikani stieg vom Baum und warf Day-Yan einen kurzen Blick zu. Der Krieger lag im Gebüsch und war in seiner graubraunen Kleidung im Licht des anbrechenden Tages kaum zu sehen. Eine leuchtend blaue, aufgemalte Tigermaske veränderte seine Gesichtszüge, machte sie beinahe nichtmenschlich. Hinter ihm bebte der Boden: fünfzig Mann, ebenfalls graubraun gekleidet und mit bemalten Gesichtern, robbten in Richtung der Soldaten.
    Soldaten, die noch nicht wussten, dass Raubkatzen auf sie zuschlichen.
    Das Licht veränderte sich von Grau zu Rosa, und unten, auf dem Weg, löschten die Soldaten ihre Fackeln. Marikani trat näher heran, stieg auf einen Felsen, dann auf den nächsten, bevor sie sich gut sichtbar unter einem Felsüberhang oberhalb der langen Kette von Feinden befand, die auf das Kloster zumarschierten.
    Einige unendliche Augenblicke lang bemerkte niemand
die hochgewachsene Gestalt, die sich vor dem kalten Morgenhimmel abzeichnete.
    Dann hob einer der Offiziere in der ersten Reihe den Blick und erstarrte.
    Einer nach dem anderen machten die Soldaten hinter ihm halt.
    Wind kam auf und spielte mit Marikanis Haar. Diesen Effekt hatte sie nicht vorhergesehen, aber er machte ihren Auftritt nur noch theatralischer. Dann hob sie mit wohlberechneter Langsamkeit die Arme.
    Unter Wutgeschrei warfen sich die Raubkatzen auf die Soldaten.
    Es dauerte nicht lange. Das Überraschungsmoment wirkte zugunsten der Angreifer, ebenso das Entsetzen: Weder die Rekruten aus Reynes noch die erfahreneren Soldaten aus Kiranya waren darauf vorbereitet, dass eine Horde blonder Barbaren mit türkisfarbenen Tiergrimassen sich aus dem Nichts auf sie stürzte. Sie sind höflichere Kriege gewohnt , dachte Marikani, die auf ihrem Felsen stehend dem Gemetzel zusah. Kriege, in denen Armeen sich erst einmal auf dem Schlachtfeld in Augenschein nehmen und die Offiziere sich grüßen, bevor sie einander dann umbringen.
    Geschrei, das Klirren von Waffen, Befehle.
    Bald lagen nur noch tote und sterbende Soldaten auf dem Weg, während es ringsum von Männern mit blauen Gesichtern wimmelte. Ein Soldat aus Kiranya, der ein Gebet an Lâ herausschrie, floh nach Süden. Ein einziger Überlebender.
    Farer, der zu Marikani heraufgekommen war, hob seinen Bogen und zielte. Marikani legte ihm die Hand auf den Arm. Farer sah sie erstaunt an.

    Marikani blickte der Gestalt nach, die sich in den grauen Tag hinein entfernte. Seit sie die Berge überquert hatten, hatte sie nach der Devise »Keine Gnade« handeln lassen. Sie durften nicht gefunden werden; sie durften keine Überlebenden zurücklassen, die sagen

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