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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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konnten, wo sie sich aufhielten, wie viele sie waren und welche Methoden sie anwandten.
    Aber die Lage hatte sich geändert. Zurückhaltung war nicht mehr ihre einzige Überlebenschance. Da die Aufmerksamkeit ihrer Feinde auf die Sakâs gerichtet war und ihre Zahl wuchs, da die Verbannten Waffen und Material lieferten und die »Legende von Ayesha« mit jedem Tag größer wurde, war die Angst nun eine ihrer besten Verbündeten.
    Der arme Soldat stolperte auf dem felsigen Boden, so dass sein Rücken ein ideales Ziel für Farers Pfeil bot. Farer wartete nur auf den Befehl zu schießen. Wenn der Soldat überlebte, würde er allen, die es hören wollten, davon erzählen, wie Ayeshas Silhouette ihnen wie ein Gespenst in den prächtigen Strahlen der Morgensonne erschienen war. Er würde die Zahl der Feinde übertreiben, aus ihrer Bemalung grässliche Tätowierungen machen und die Wildheit des Angriffs ausschmücken.
    Was im Krieg zählt , hatte Harrakin einmal gesagt, ist nicht, was man ist, sondern das, wofür der Feind einen hält.
    »Lass ihn entkommen«, sagte Marikani zu Farer.
     
    Der Himmel war strahlend blau, als sie zum Kloster zurückkehrten. Es bestand aus drei gewaltigen Säulenhallen, die oberhalb des Sees aus funkelndem weißem Stein errichtet waren. Manche Bodenplatten, die absichtsvoll an bestimmten Stellen eingelassen waren, bestanden aus
dem Stein des Alten Kaiserreichs, und ihr unwirkliches Leuchten steigerte nachts die spirituelle Erhabenheit des Ortes.
    In Friedenszeiten lebten hier vier- bis fünfhundert Mönche. Sie waren einige Tage vor der Ankunft des Ayesha-Volks geflohen, da kiranyische Späher ihnen das Herannahen der dritten Armee der Sakâs gemeldet hatten. Die Sakâs waren mittlerweile weiter nach Süden vorgedrungen und hatten eine Reihe von Dörfern an der Grenze zu den Fürstentümern niedergebrannt, um an die Front zu gelangen. Aber die Mönche waren nicht zurückgekehrt. Die viertausend Männer, Frauen und Kinder, die Marikani inzwischen folgten, hatten die Speicher und Keller geplündert und alles an sich gerissen, was die Mönche nicht mehr hatten mitnehmen können. Dann hatten sie sich im Kloster eingerichtet.
    Die Frauen und Kinder umringten jubelnd und lachend Day-Yans Männer, die die »Beute« anschleppten: Helme, Waffen, Federbüsche und sogar kleine, für Männer gedachte Schmuckstücke, die sie den Leichen abgenommen hatten und die nun die jungen Mädchen erfreuten. Marikani befahl Farer, den Rat zusammenzurufen, und ging dann zu Bara hinüber, der amüsiert zusah, wie zwei Jungen sich um eine kiranyische Uniformjacke stritten.
    Ringsum ertönten der Lärm der Armbrustbolzen, die in Zielscheiben eindrangen, und das Aufeinandertreffen metallener Waffen. Die Männer übten. Marikani sah sich um. Im kalten, hellen Tageslicht wirkten ihre nächtlichen Ängste sehr fern. Das Ayesha-Volk bestand nicht mehr aus Tausenden von abgezehrten, verhungernden Männern, Frauen und Kindern, wie sie mit einer gewissen
Befriedigung vermerkte. Es setzte sich nun aus bewaffneten Männern und weniger ausgehungerten Frauen und Kindern zusammen. Zweitausendfünfhundert »Klötze am Bein«, wie Haîk sie boshaft nannte, und tausendfünfhundert Krieger in Abteilungen von sechzig Mann, die von behelfsmäßigen Ausbildern geführt wurden. Bei diesen handelte es sich um ehemalige Sklaven oder Verbannte, die die Übrigen in der Kriegskunst unterweisen konnten.
    Denn auch die Verbannten hatten ein Lager aufgeschlagen. Ihre bunten, luxuriösen Zelte waren auf winzigen Inseln im Südteil des Sees errichtet. Im Westen dominierte die graue, schimmernde Linie der Berge den Horizont. Täglich trafen neue Schiffe der Verbannten ein, die Material und Familien heranschafften. Langsam schloss sich, Gruppe für Gruppe, das Volk des Joar dem Ayesha-Volk an. Nur wenige Verbannte waren bei der Eroberung des Emirats ums Leben gekommen. Ihr Herr hatte die Niederlage vorausgesehen und ihnen befohlen, nach Norden zu fahren.
    Doch obwohl ihre Lager so nahe beieinanderlagen, hatten die beiden Völker sich zu Marikanis Bedauern noch nicht vermischt. Sie ging mit Bara zu dem Becken, an dem sich der Rat versammeln würde. Die Verbannten blieben auf Distanz. Oder war es so, dass die ehemaligen Sklaven ihre Gegenwart nur schwer ertrugen? Noch trennten sie dreitausend Jahre göttlicher Verdammnis. Aber die Kluft würde sich schließen.
    Sie brauchten nur Zeit.
    Zwei Frauen kamen auf sie zu. Ihre blonden Haare fielen über lange,

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