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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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Harabec Übelkeit in ihr erregt hatten, wenn sie gehört hatte, wie man sie zu Ehren der Götter sang, die ihre Eltern dazu verdammt hatten, in Ketten zu leben. Ja, sie hasste religiöse Gesänge, die noch aus den intelligentesten Menschen Tiere machten, die sich vor einem Gewitter fürchteten …
    Galle stieg Marikani in die Kehle.
    Die Lösung war ganz einfach. Sie lag in Baras anbetenden
Worten, in der Panik der Rekruten aus Reynes, die sich fast ohne Gegenwehr hatten niedermetzeln lassen, in Hannaïs verängstigtem Blick.
    Es war eine Lösung, die ihr mehr als alles andere widerstrebte.
    Aber wie Arekh hatte sie ihre Wahl getroffen.
     
    Der kleine König von Kiranya schlief tief und fest.
    Ein Kind von neun Jahren, allein in seinem Bett mit den purpurnen Vorhängen. Das Bett stand in einem Zimmer mit scharlachroten, goldverzierten Wänden, inmitten des geheiligten Gevierts, das das Zentrum des Palastes bildete. In diesem inneren Geviert lebten, schritten, schliefen und wachten unter erdrückend prächtigen Decken und zwischen gewaltigen Steinstatuen über tausend Höflinge, Ratgeber und Soldaten. Darauf folgte das zweite Geviert, das um das erste herumgebaut war und in dem die Frauen und Dienerinnen sowie weitere Soldaten lebten. Das zweite Geviert lag innerhalb eines dritten, in dem Köche und Knechte arbeiteten. Danach kamen die Höfe, auf denen die Soldaten übten. Dann die Befestigungsmauern. Und ringsum lag die Stadt, die ihrerseits von Mauern umgeben war. Das war der Grund dafür, dass der kleine König allein friedlich in seinem rotgoldenen Zimmer schlafen konnte: Ein ganzes Volk wachte über ihn.
    Etwas regte sich auf seinem Lager, dicht neben ihm. In seinen Träumen gestört, rührte sich der kleine König dennoch kaum: Er schlief tief, den Schlaf eines Kindes, trotz aller Verantwortung, aller Kriege, Intrigen und Verträge, mit denen die Ratgeber seine Jugend zu vergällen versuchten.

    Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
    Die Berührung war leicht und angenehm, aber die Hand hatte dort nichts zu suchen. Der kleine König wurde stets eine Stunde nach Sonnenaufgang nach einem komplizierten Zeremoniell geweckt. Zunächst ertönte eine sehr sanfte Melodie, ein Flötenstück, das die Tempelmusiker spielten, die hinter der Tür warteten. Dann Stille, während eine Pendeluhr langsam die Minuten zählte, bis die Flöte erneut ertönte und ein junger Priester mit goldener Stimme einfiel. Schließlich öffnete ein Adliger, der unter den fünf Größten des Königreichs erwählt war, die Tür, und die Höflinge traten ein und nahmen am Fuß des königlichen Betts Aufstellung, um dem König beim Aufstehen zuzuschauen.
    Es war nicht vorgesehen, dass jemand ihm die Hand auf die Schulter legte. Nur sehr wenige hatten überhaupt das Recht, den König zu berühren - und das auch nur unter ganz bestimmten Umständen.
    Es war keine Flöte ertönt, kein Lied gesungen worden, und die Sonne drang nicht durch die Bettvorhänge. Die Hand drückte seine Schulter ein wenig zusammen, diesmal drängender, und der kleine König schlug die Augen auf. Kalter Schweiß lief ihm über den Rücken.
    Ganz starr angesichts des scheußlichen Eindrucks, dass nichts so war, wie es sein sollte, wandte er den Kopf nicht, sondern musterte nur, was sich in seinem Gesichtsfeld befand: ein Stück des Kopfkissens aus Leinen und Seide und den Rand der runden, violetten Polster, die jeden Abend auf seine Bettkante gelegt wurden. Die grüne, mit dem Emblem des Lebens verzierte Kerze brannte auf dem kleinen Holztisch, der neben seinem Bett stand. Die Kerze war geweiht, sie wurde jeden Tag erneuert, und
die Flamme würde erst gelöscht werden, wenn der König starb, um dann von seinem Nachfolger neu entzündet zu werden.
    Ja, ein Stück Kopfkissen, ein Polster und … eine Hand. Die an einem in braunes Leinen gekleideten Arm hing.
    Der kleine König holte tief Luft.
    Ein Albtraum. Es konnte gar nichts anderes sein. Es war undenkbar, dass jemand, der braunes Leinen trug wie das einfache Volk, in sein Zimmer hatte eindringen können - das wäre ein Bruch einer streng geregelten, perfekten, uralten Wirklichkeit gewesen. Wenn er schrie, würde der Albtraum sicher verschwinden. Aber der Schrei würde die Wachen anlocken, und das Gerücht, dass der König Angst hatte, würde sich wie ein Lauffeuer im Palast verbreiten. Man würde eine Verbindung zwischen dem Albtraum und dem Krieg ziehen. Das konnte er sich nicht erlauben, da auch die winzigsten seiner

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