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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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angekommen waren. Doch aufgrund der verstärkten Sicherheitsmaßnahmen hatte sich die Lage Stück für Stück verschlechtert. Die Gefahr war jetzt größer. Mas Dravec hatte die Häufigkeit der Schleusergänge verringert und seine Preise erhöht; er kümmerte sich nur noch um diejenigen, die einen Aufschlag auf die schon gezahlte Summe aufbringen konnten. Die anderen konnten nur warten.
    Manche harrten schon seit über zwei Monaten in diesen feuchten Höhlen aus. Der Ort war ein wahres Labyrinth. Die Kavernen waren mit den Abwasserkanälen und mit noch älteren Tunneln verbunden, die irgendwo im Dunkeln verschwanden.
    Wenigstens gab es reichlich zu essen. In einer Nebenhöhle lagerten Mehlsäcke. Sie hatten Schmugglern gehört, derer sich Mas Dravec und seine Männer entledigt hatten, als sie sich hier eingenistet hatten. Eine kleine Quelle sprudelte über die Felsen.
    Aber die Moral sank, und die hygienischen Bedingungen waren fürchterlich.
    »Wir müssen hier weg«, flüsterte Arekh Lionor nach dem dritten Tag dessen zu, was offiziell noch keine Gefangenschaft war. »Wir können nicht abwarten. Sonst werden wir … Sie werden uns hier vergessen.«
    Das war nicht das, was er hatte sagen wollen, aber Arekh wusste nicht, wie er seinen Gedanken ausdrücken sollte. Er hatte weniger Angst vor Mas Dravec und seinen Männern als vor sich selbst - vor ihnen selbst. Diese Höhle und die feuchten Steine erinnerten zu sehr an ihre Zelle. An diesem Ort einzuschlafen und aufzuwachen
und diesen besonderen Geruch der Feuchtigkeit und Hoffnungslosigkeit zu riechen, würde sie wieder in den Zustand versetzen, in dem sie sich in den Verliesen des Ratsgebäudes befunden hatten.
    Wenn wir zu lange hierbleiben, werden wir verrückt , dachte Arekh.
    Er stand auf und sah sich zum hundertsten Mal um. Seinen Berechnungen nach mussten sie sich unter dem fünften Hügel von Reynes befinden, nicht weit von der nördlichen Stadtmauer entfernt. Das ehemalige Schmugglerversteck bestand aus drei großen Höhlen und einer Reihe kleinerer, in denen Nahrungsmittel und Fässer lagerten. Nur ein Gitter aus wurmstichigem Holz versperrte den Ausgang - ein Gitter, das Schlägen nicht lange standhalten würde.
    Aber die Flüchtlinge versuchten nicht zu gehen. Sie hatten bezahlt und hofften, dass Mas Dravec sein Versprechen halten würde. Wohin hätten sie auch gehen sollen? Die Abwasserkanäle, die unter den wohlhabenderen Vierteln verliefen, hätten sie nur ins Herz der Stadt zurückgeführt. Und die Tunnel … die Tunnel waren dunkel und gefährlich. Niemand wusste, wohin sie führten oder aus welcher Epoche sie stammten.
    Arekh ging zwischen den Grüppchen hindurch, um zu Lionor zurückzukehren, machte einen Bogen um Bündel, Truhen und schlafende Kinder. In der Menge, die wartend auf dem Boden hockte, gab es viele blonde Köpfe - während des Aufstands am Tag des Großen Opfers waren Tausende von Sklaven entkommen und hatten sich versteckt. Die meisten waren in den ersten Wochen aufgespürt und getötet worden, aber manche hatten fliehen können. Andere hatten sich monatelang
in der Stadt versteckt, bevor sie sich an einen Schleuser gewandt hatten, um Reynes unauffällig zu verlassen. Wie hatten sie bezahlt? Sicher zumeist mit gestohlenem Geld. Andere hatten gewiss Hilfe erhalten. Arekh musterte eine Frau mit fast durchsichtiger Haut und hellblondem Haar, die einen kleinen, braunhaarigen Jungen an sich gedrückt hielt. Arekh musste sie nicht erst anhören, um ihre Geschichte zu kennen. Wie so viele Sklavinnen war sie von ihrem Herrn geschwängert worden. Aber das sagte noch nicht, wie dieser Mann sich ihr gegenüber verhalten hatte: liebevoll, grausam, mitfühlend, gewalttätig? Immerhin hatte er sie und den gemeinsamen Sohn am Tag des Großen Opfers gerettet; er hatte ihr den Schlepper bezahlt.
    Das war mehr als das, was viele andere getan hatten.
    Diese Sklaven hier zu sehen - zwischen den verarmten Kaufleuten, vom Krieg in Angst und Schrecken versetzten Familien oder politischen Oppositionellen, die den Rest der Flüchtlinge bildeten - war … seltsam. Männer und Frauen vom Türkisvolk, die neben freien Menschen saßen, sich um dieselben Feuer drängten, das Mehl miteinander teilten … Trotz allem, was er wusste und erlebt hatte, machte Arekh der Anblick nervös. Seine Reaktion ergab keinen Sinn, das wusste er. Was hätte er nicht darum gegeben, Marikani und Non’iama hier mit ihnen am Feuer sitzen zu sehen? Was hätte er nicht unternommen, um

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